Russka
überwacht; Mischa und andere kontrollierten die Gegend unermüdlich. Und dennoch war es nicht zu verhindern, daß die Vorräte allmählich schwanden.
Die Bobrovs selbst litten zwar keinen Hunger, doch Nikolaj spürte, daß die Not um sie her seine Eltern überforderte. Sein Vater sah grau und eingefallen aus, sein früherer Optimismus war verschwunden. Die sonst so entschlossene Anna wirkte matt und zögernd. Sie nahm ihren Sohn einmal zur Seite und sagte: »Nikolaj, du mußt übernehmen. Dein Vater kann nicht mehr.« Nikolaj ging durch den Ort. Es war alles wie früher. Zu seiner Freude traf er Arina noch lebend an – eine kleine verhutzelte babuschka, deren Augen immer noch durchdringend blickten. Timofej Romanov und seine Frau hießen ihn herzlich willkommen. Ihre Tochter Arina, in Nikolajs Erinnerung ein kleines Kind, war nun ein liebenswertes, breitgesichtiges Mädchen von siebzehn Jahren. Nur Boris zeigte ihm die kalte Schulter, aber dem maß Nikolaj keine besondere Bedeutung zu. Überall im Dorf begegnete er schweigender Resignation. Der Dorfälteste sorgte dafür, daß jede Familie etwas Brot bekam. In manchen isbas gab es noch Pökelfleisch. Viele gingen täglich hinaus und versuchten, durch die Löcher im Eis Fische zu fangen.
Die Mönche des Klosters, das Getreidevorräte hatte, verteilten Mehl an die nächsten Bauern. »Unser Vorrat reicht noch neun Wochen«, sagten sie Nikolaj.
»Der Mann, von dem jetzt alles abhängt, ist zur Zeit in Russka«, meinte Mischa Bobrov. »Es ist Vladimir Suvorin.« Vladimir, der ältere Enkel jenes alten Schreckgespenstes Sawa und der Bruder Peter Suvorins. Mischa hatte seinem Sohn niemals von Peters belastendem Brief erzählt, und wie er Sawa damit erpreßt hatte. Nikolaj wußte deshalb über Peter nur, daß er weggelaufen und irgendwann wiederaufgetaucht war. »Ich glaube, er ist jetzt Professor in Moskau«, sagte Mischa. »Er kommt niemals hierher.« Über Vladimir Suvorin dagegen hatte Nikolaj mehr erfahren. Der mächtige Industrielle lenkte seine Unternehmen in Moskau und Russka mit eiserner, aber gerechter Hand. Seine Leute arbeiteten nicht mehr als zehn Stunden täglich; es gab keine Kinderarbeit und keine grausamen Strafen für geringe Vergehen. Anders als bei so manchem führenden Industriellen Rußlands wurde bei ihm nie gestreikt. Nikolaj hatte gehört, daß Vladimir in Moskau ein sehr großes Haus besitze, aber oft nach Russka komme.
Schon am übernächsten Morgen kam Vladimir Suvorin zu einem Besuch ins Haus der Bobrovs. Er war den Beschreibungen entsprechend riesengroß, aber nicht so, wie Nikolaj vermutet hatte. Er war anders als alle Menschen, die Nikolaj bis dahin kennengelernt hatte.
Vladimir Suvorin stieg aus dem Schlitten und ging auf die wartende Familie zu. Ruhig streifte er einen grauen Handschuh ab und streckte Mischa freundlich lächelnd seine große fleischige Hand hin.
»Mein lieber Freund«, sagte er mit warmer Stimme. Man ging ins Haus, und Vladimir legte den Pelzmantel ab. Darunter trug er ein gut geschnittenes Jackett, das den kleinen Bauchansatz geschickt kaschierte. Auch Vladimirs großes, kantiges Gesicht zeigte leichte Rundungen, die auf ein gutes, doch nicht unmäßiges Leben hindeuteten. Sein sich lichtendes Haar war kurz geschnitten, seine Nase groß, doch ebenmäßig.
Der dunkelbraune Schnurrbart und der kurze Bart wirkten höchst gepflegt. Ein leichter, angenehmer Duft von Eau de Cologne umwehte Vladimir.
Nikolaj beobachtete den Mann fasziniert. Wie alle Leute, die in St. Petersburg lebten, nahm auch er Moskau gegenüber eine leicht arrogante Haltung ein. Moskau galt ihm als provinziell, ein Ort für Kaufleute. In St. Petersburg hatte Nikolaj sich in den besten Kreisen bewegt. Er kannte Männer vom Reichsgericht, kosmopolitische Aristokraten. Er kannte Adlige, die ein großes Haus führten. Vladimir dagegen war ein Mann – Enkel eines Leibeigenen der Bobrovs –, der zwar nicht zu den Angehörigen der Oberschicht gehörte, aber trotzdem kosmopolitischer war als sie alle. Er sprach ein gepflegtes Russisch. Aus einigen Andeutungen ging hervor, daß er auch Französisch beherrschte, ebenso war er in Deutsch und Englisch daheim. Wie er sprach und wie er sich bewegte – er strahlte völlige Selbstsicherheit aus. Er ist wie ein Monarch oder ein östlicher Potentat, dachte Nikolaj.
Er hat vollendete Manieren, und dabei sagt und tut er doch genau, was er will – und jeder gehorcht ihm.
Es war nicht zu übersehen: Vladimir hatte
Weitere Kostenlose Bücher