Russka
nicht allein. Die junge Arina wollte diese Stadt immer schon kennenlernen. Da Mischa inzwischen gesund war und Nikolajs Frau geschrieben hatte, sie könne zeitweilig eine Kinderfrau gebrauchen, kam man überein, daß Arina Nikolaj begleiten und den Sommer bei seiner Familie verbringen solle. Das Mädchen war sehr froh darüber. Und falls sie vor ihrer Abreise wirklich eine unangenehme Unterredung mit ihrem Bruder Boris gehabt hatte, behielt sie das für sich.
Drei Tage danach zeigte Timofej Romanov Krankheitssymptome. Innerhalb einer Stunde erbrach er eine weißliche Masse mit kleinen reisartigen Körnern darin. Er hatte Cholera, die rasch ins letzte Stadium trat. In der Abenddämmerung lag Timofej bereits in Agonie. Gegen Morgen war sein Körper durch das häufige Erbrechen völlig geschwächt und fast purpurrot. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Totenblässe stellte sich ein. Timofejs Frau und die alte Arina, die schon ein dutzendmal seine durchweichten Kleider gewechselt hatten, standen in dem bleichen Frühlicht da und blickten ihn voll Trauer an. Die Augen des alten Mannes waren weit aufgerissen, aber er konnte sich nicht mehr äußern. Zu Mischa Bobrovs Überraschung stand in aller Frühe Boris Romanov vor der Tür. Er konnte sich nicht entsinnen, wann dieser selbstsichere und abweisende Bursche das letztemal in diesem Haus gewesen war. Heute jedoch benahm er sich höflich, fast zuvorkommend. »Leider bringe ich schlechte Nachrichten, mein Herr«, erklärte er. »Mein Vater.« Und nun berichtete er die Einzelheiten.
»Mein Gott!« Nun hatte die Seuche Bobrovo doch noch erreicht. Gott sei Dank bin ich in so guter Verfassung, daß ich damit fertig werde, dachte Mischa. Er schickte unverzüglich nach einem Arzt und ließ die Menschen in Russka vor der Krankheit warnen. Boris stand immer noch herum. »Es ist so, mein Herr, daß er nach Ihnen gefragt hat. Er will sich verabschieden. Er wird diesen Tag nicht überleben.« Mischa zögerte. Er hatte keine Lust, in ein Haus zu gehen, in dem die Cholera herrschte. Ich kann es mir nicht leisten, mich anzustecken, dachte er verärgert. Es gibt zuviel zu tun. Doch sogleich schämte er sich seiner Reaktion. »Natürlich«, sagte er und zog den Mantel an.
Es war unerträglich heiß in der isba der Romanovs. Obwohl ein Fenster offenstand, war die Luft stickig und verbraucht. Vor Mischa lag der Spielgefährte aus Kindertagen, Timofej – oder das, was von ihm übriggeblieben war. Armer Teufel! Timofej sah Mischa freundlich-erstaunt an, aber sprechen konnte er nicht mehr. Mischa blickte sich im Zimmer um. Die alte Arina und ihre Tochter hielten es peinlich sauber. Tisch und Fußboden waren kürzlich geschrubbt worden. Timofej lag im frischbezogenen Bett neben dem Ofen. Boris nahm Mischa in überraschender Dienstfertigkeit den Mantel ab und bot ihm einen Stuhl an. Doch zog er es vor zu stehen, und zwar in gewissem Abstand vom Patienten, und war sehr darauf bedacht, nichts zu berühren. Da versuchte Timofej ein Lächeln. Mischa sprach alle Trostworte, die ihm einfielen. Er erinnerte an vergangene Zeiten, an gemeinsame Bekannte, und der alte Bauer hatte allem Anschein nach Freude daran. Boris schien froh darüber und schlüpfte kurz aus dem Zimmer. Merkwürdig, daß angesichts des Todes Zwistigkeiten von ehedem sich in nichts auflösten. Boris handelte rasch und lautlos. Sein Vater war beim Anblick des Landbesitzers so überrascht gewesen, daß Boris fürchtete, Mischa könnte daraus schließen, daß Timofej gar nicht nach ihm geschickt habe. Jetzt lief er in den Vorratsraum.
Die Bettwäsche und drei Hemden seines Vaters lagen in einem Winkel. Die alte Arina wollte sie verbrennen, hatte jedoch bisher keine Zeit dafür gefunden. Boris breitete Mischas Mantel aus, legte ihn auf den Wäschehaufen und preßte ihn mehrmals darauf, bis er dachte, die Krankheitserreger müßten sich übertragen haben. Dann trug er den Mantel ins Zimmer zurück. »Das ist für Natalia«, flüsterte er vor sich hin. Kurz darauf eilte Mischa nach Hause. Wie schrecklich heiß es doch in dem Krankenzimmer gewesen war! Gott sei Dank habe ich nichts berührt, man kann nicht vorsichtig genug sein, dachte er. Aber er war stolz auf sich. Er hatte das Richtige getan und hatte dem alten Bauern offensichtlich eine Freude gemacht. Anscheinend war er dort drinnen doch stärker ins Schwitzen gekommen, als er vermutet hatte. Als er den Hügel hinaufging, fühlte sich sogar sein Mantel feucht an. Er wischte sich die
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