Russka
da sie nicht fähig sind zu regieren.« Er schrie mit voller Lautstärke, und es machte ihm anscheinend nichts aus, daß Bedienstete, Kutscher und mehrere Dorfbewohner Zeuge waren. Mischa Bobrov, Landbesitzer, Adliger, liberal, loyaler Monarchist, war fertig mit der Regierung. Nikolaj wußte, daß es anderen Landbesitzern und Männern des zemstvo in allen zentralen Provinzen in diesem Winter der Hungersnot ebenso erging.
Und so blickte Nikolaj Bobrov nach Jahren auf diesen Tag zurück und dachte: Auch damit begann die Revolution. Im Frühjahr kam es zum ersten Ausbruch der Krankheit, und zwar in den Hütten, die verstreut am Flußufer unterhalb von Russka lagen. Zuerst, als mehrere Menschen an Durchfall litten, nahm kaum jemand Notiz davon. Nach zwei Tagen erbrach ein Mann plötzlich eine weißlichgelbe, molkeähnliche Masse. Kurz darauf erbrach er wieder heftig, schrie, seine Magengrube glühe wie Feuer und er verbrenne.
Am folgenden Tag litt der Kranke an akuten Krämpfen in den Beinen, sein Körper verfärbte sich blau. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, so daß sein Kopf aussah wie ein Totenschädel, und er brachte nur noch ein paar heisere Laute zustande. Bevor der nächste Morgen dämmerte, starb er. Nach dem Tod blieb der Körper eine Zeitlang merkwürdig warm. Die Frau des Verstorbenen meinte, er sei sogar noch wärmer geworden und noch nach geraumer Zeit seien Muskelzucken und Krämpfe zu spüren gewesen. Innerhalb weniger Stunden wußte es ganz Russka: Die Cholera war ausgebrochen. »Wenn wir sie nur vom Ort fernhalten können«, war Mischa Bobrovs tägliche Litanei. »Wenn Russka ordentlich verwaltet würde, müßte man das ganze Gebiet abriegeln.« Doch weder die örtliche noch die Provinzverwaltung konnte einen solchen Versuch wagen; die Menschen kamen und gingen. Aufgrund der Bemühungen der beiden Bobrovs und Suvorins wurde eine Art inoffizieller Quarantäne eingeführt, die die Ausbreitung der Cholera zu verhindern schien. Der Erfolg ihres bescheidenen Versuchs wurde bald von einem jungen Arzt bestätigt, den der zemstvo anstellen konnte, damit er sich mit der ausgebrochenen Seuche befasse. »In anderen Teilen des Landes wütet sie so, daß man keine Kontrolle mehr über sie hat«, berichtete er. »Die Hungersnot hat alle Menschen geschwächt und anfällig für Krankheiten gemacht.« Es gab einige Dutzend Fälle in der Stadt, etliche im Kloster und mehrere in den umliegenden Ortschaften. »Im Grunde kann ich nicht viel tun«, gab der junge Arzt zu, »im Frühstadium verabreiche ich Opium oder Silbernitrat; Senfpflaster und Chloroform, wenn Krämpfe auftreten. Wenn eine Chance auf Heilung besteht, verabreiche ich Kognak oder Ammoniak.«
Dem Doktor gingen bald die Medikamente aus. Wieder sagte die Zentralregierung medizinische Versorgung zu, aber diesmal erwarteten die Bobrovs erst gar nicht, daß diese eintreffen würde. Und so war es auch. Nikolaj fuhr in die Provinzhauptstadt wegen Medikamenten, doch vergeblich. Suvorin dagegen konnte in Moskau Nitrat auftreiben.
»Wie machen Sie es, daß Sie sich selbst nicht anstecken?« fragte Nikolaj den Arzt bei ihrer ersten Begegnung. »Manche Leute glauben, die Krankheit werde durch die Luft übertragen«, erklärte der Arzt. »Ich aber bin der Ansicht, daß die Ansteckung vor allem durch den Mund erfolgt. Trinken oder essen Sie nichts, das von einem Cholerakranken berührt worden ist. Wenn Erbrochenes oder die Körperflüssigkeit eines Kranken an Ihre Kleider gelangt, ziehen Sie sich um, und waschen Sie sich gründlich, ehe Sie etwas zu sich nehmen.«
Nikolaj befolgte diese Ratschläge genau, und tatsächlich geschah ihm nichts. Eine Woche verstrich, eine zweite, eine dritte. Und immer noch war die Cholera nicht bis Bobrovo vorgedrungen. Während die übrige Welt vor der Krankheit zitterte, erlangte Mischa Bobrov allmählich seine Kräfte zurück. Er ging häufig mit seiner Frau oder Arina durch die Wälder oberhalb des Hauses spazieren. Es war schön, daß sich der alte Mann und sein Sohn nun näherkamen.
Allmählich nahmen die Todesfälle ab. Nach einem Monat schien die Seuche abgeklungen zu sein. »Sie haben Glück gehabt«, meinte der Arzt. »Ich wurde gerade aufgefordert, in eine schwer betroffene Gegend in der Nähe von Murom zu gehen. Leben Sie wohl!« Mitte Mai beschloß Nikolaj, nach St. Petersburg zurückzukehren. »Ich komme im Juli wieder«, versprach er seinen Eltern. Höchst erleichtert machte er sich nach der Hauptstadt auf. Er reiste
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