Russka
Stirn und den Schnurrbart mit dem Mantelärmel ab.
Eine Woche später erreichte Nikolaj in St. Petersburg die Nachricht, daß sein Vater die Cholera habe.
1892
In dem Raum war unterschwelliges Stimmengewirr zu hören. Bald würde der bekannte Redner eintreffen. Rosa Abramovitsch spürte eine erwartungsvolle Erregung. Sie war nie vorher auf einer solchen Versammlung gewesen. Die ungefähr dreißig Anwesenden waren alle Anfang Zwanzig. Draußen tauchte die sommerliche Abendsonne die litauische Hauptstadt Wilna und ihren alten Schloßberg in sanftes orangefarbenes Licht.
Rosa Abramovitsch, zwanzig Jahre alt, lebte seit zehn Jahren in Wilna. Sie hätte auch in Amerika sein können. Viele Juden waren nach den Pogromen 1881 dorthin ausgewandert, doch in einer Familienbesprechung, die ihr Vater in jenem furchtbaren Jahr einberufen hatte, wurde beschlossen, aus dem jüdischen Gebiet etwa fünfhundert Meilen nach Nordwesten, nach Litauen zu gehen. Erst wenn es Pogrome auch in Wilna gebe, meinte ihr Vater, würden sie Rußland verlassen. Er hatte immer noch Hoffnung. Rosa liebte ihre neue Heimat. Von der litauischen Hauptstadt war es nur eine Tagesreise zur Ostsee oder in die südwestlich gelegene frühere Hauptstadt Polens, Warschau. Im Norden lagen die baltischen Provinzen, wo die Letten und Esten zu Hause waren. Obwohl all diese Länder damals einen Teil des wachsenden Zarenreiches bildeten, bedeutete das nicht, daß sie in ihrem Charakter russische Züge hatten. Die litauischen Bauern, die in großen, hübschen Holzhäusern wohnten, erinnerten Rosa an die unabhängigen Kosakenbauern aus der Ukraine. Und Wilna war eine hübsche alte europäische Stadt, eine kosmopolitische Stadt mit einer aufstrebenden jüdischen Gemeinde.
Rosas Vater fand nur einen Makel an diesem Ort: Es gab zu viele von diesen freidenkerischen jungen Juden, die sich von ihrer Religion abgewandt hatten. Trotz aller Anstrengungen war es ihm kaum gelungen, seine beiden Söhne daran zu hindern, sich mit ihnen zusammenzutun. Über die kleine Rosa hatte er allerdings bis zu seinem plötzlichen Tod im vergangenen Jahr streng gewacht. Und nun war es eben eine solch gefährliche Gesellschaft, in die sie an jenem Abend geraten war. Sie fand alles sehr aufregend. Freunde ihrer Brüder hatten sie hergebracht. Die Hälfte der Menschen im Raum waren junge Männer und Frauen aus der angepaßten jüdischen Mittelklasse, Studenten, ein junger Arzt, ein Anwalt. Die übrigen waren jüdische Arbeiter. Es war eine sympathische, lebhafte Versammlung, doch Rosa kannte niemanden. Obwohl sie erst zwanzig Jahre alt war, hatte ihr das Leben bereits harte Schläge versetzt. Anfangs hatte ihre musikalische Karriere in Wilna große Fortschritte gemacht; mit sechzehn hatte sie bereits mehrere Klavierkonzerte gegeben und eine kleine Konzertreise hinter sich. Für das Jahr darauf hatte man ihr eine größere Tournee mit einem bedeutenden Dirigenten in Aussicht gestellt. Ihre Eltern waren begeistert, ihre Brüder stolz.
Die letzten drei Jahre waren dagegen ein Alptraum gewesen. Die Krankheit lastete mitunter schwer auf ihrer Brust, und der Husten bereitete ihr Schmerzen. Sie war tagelang so erschöpft, daß sie keine Kraft für irgendeine Tätigkeit hatte. Die Tournee mußte abgesagt werden. Rosa übte kaum noch auf dem Klavier. »Wenn ich nicht vollkommen spielen kann, will ich überhaupt nicht mehr spielen«, erklärte sie ihrem unglücklichen Vater. Sie verfiel in Depressionen.
»Wenn sie nur Freunde hätte, die ihr helfen könnten«, klagte die Mutter.
Leider waren fast all ihre Freunde in Wilna Musiker, und diese wollte sie nicht mehr sehen. Ihr blieb nur einer: der junge Ivan Karpenko in der Ukraine. Seit jenem schlimmen Tag, als er die Familie vor dem Pogrom gerettet hatte, bestand eine besondere Bindung zwischen Rosa und dem Kosakenjungen. Der plötzliche Tod des Vaters hatte Rosa aus ihrer Lethargie gerissen. Das Familienvermögen war zerronnen; die beiden Brüder mußten die Mutter unterstützen. Rosa war gezwungen, sich zu überlegen, wie sie ihr Leben gestalten wollte. Eine Musikerkarriere stand – zumindest im Moment – nicht zur Debatte. Welche Alternative gab es? Klavierstunden geben – für einen Hungerlohn? Rosa verabscheute den Gedanken. Es gab ein Lehrerseminar in der Stadt, wo jüdische Studenten für den Unterricht an staatlichen Schulen ausgebildet wurden. Ihre Brüder hielten das für besser. Was macht es schon aus, wenn ich ohnehin nicht tun kann, was
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