Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
ich möchte, hatte sie gedacht und sich angemeldet. Und nun war sie an einem Sommertag auf dieser jüdischen Arbeiterversammlung. Es gab viele solcher Versammlungen, manche davon Studiengruppen, in denen interessierte Arbeiter lesen und schreiben lernen konnten. Auf anderen wurde über die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen diskutiert. Wieder andere hatten umfassende politische Veränderungen zum Thema. Das heutige Treffen stellte allerdings etwas Besonderes dar. Ein Professor aus Moskau sollte einen Vortrag über Arbeiterbewegungen innerhalb und außerhalb Rußlands halten. »Bestimmt wird es nicht dabei bleiben«, flüsterte ihr ein Nachbar zu. »Der Professor ist Marxist. Ein Revolutionär.« Ein Revolutionär. Wie mochte so einer aussehen? Peter Suvorin war ein guter Redner. Anfangs wirkte der Mann mit dem zerstreuten Ausdruck auf dem schmalen Gesicht eher wie ein sanft gearteter Schulmeister. Doch bald zog er die Zuhörer in seinen Bann – und zwar mit genau dieser Sanftheit, seiner geradlinigen Aufrichtigkeit und mit der wunderbaren Klarheit seiner Ausführungen. Mit seinen siebenunddreißig Jahren war Peter Suvorin immer noch der alte. Er gehörte zu jenen reinen und glücklichen Seelen, die in einem einzigen, machtvollen Ideal ihrem Schicksal begegnen. Peters Idee, das Thema seines Lebens, war einfach: Die Menschheit kann und muß einen Status erreichen, wo alle Menschen frei sind und keiner unterdrückt wird. Er hatte das im Jahre 1874 geglaubt, und er glaubte immer noch daran. Peter hatte ein merkwürdiges Leben hinter sich. 1874 war er nach seinem plötzlichen Verschwinden aus Russka monatelang durch die Ukraine gewandert. Danach hatte er, als er Geld brauchte, sich mit seinem Bruder Vladimir in Moskau in Verbindung gesetzt, und Vladimir hatte Sawa benachrichtigt, daß sein Enkel noch am Leben sei.
    War es vielleicht Sawa Suvorin gewesen, der Peters Schicksal besiegelt hatte? Den Informationen nach hatte der alte Mann ihm vergeben. Der Brief, angeblich von Peter geschrieben, in dem er sich dazu bekannte, das Feuer gelegt zu haben, war ein furchtbarer Schlag für ihn. Es war schwer zu sagen, was ihn mehr getroffen hatte: der Verrat oder der Feuertod der beiden jungen Menschen. Er hatte zu niemandem, nicht einmal zu Vladimir, davon gesprochen. Als Sawa erfuhr, daß Peter lebte, forderte er ihn auf, unverzüglich zurückzukehren und Genugtuung zu leisten für sein furchtbares Verbrechen. Andernfalls werde er für immer aus der Familie ausgeschlossen. Peter weigerte sich zurückzukehren und traf den Alten damit schwer. »Sein Herz ist in Sünde verhärtet«, war seine Ansicht. Er sprach nie wieder von dem jungen Mann. Sawa Suvorin starb bald darauf, und sein Testament war eindeutig. Peter hatte keinerlei Mitspracherecht mehr in den Unternehmen der Suvorins, und es wurde ihm lediglich eine bescheidene Summe ausgesetzt. »Du kannst sein Testament anfechten«, erklärte Vladimir, »oder ich gebe dir einen Teil meines Vermögens.«
    Doch Peter war jung und stolz. »Ich will überhaupt nichts haben«, war sein Kommentar. Er ging nach Moskau zurück und nahm seine Studien wieder auf. Er entdeckte seine physikalische Begabung, befaßte sich gründlich mit diesem Fachgebiet und schrieb sogar einen Leitfaden dazu, der mit Erfolg veröffentlicht wurde. Unbeirrt hielt er Ausschau nach einer besseren Welt. In den 1880er Jahren kam er zum Marxismus. Seit seiner ersten Begegnung mit Popov befaßte er sich mit dem revolutionären Gedanken. Der Marxismus zeigte ihm den Weg zu einem stärkeren persönlichen Format. Hier lag die von ihm seit langem angestrebte Utopie, zu der man jedoch durch die Wissenschaft gelangte, nicht durch einen gewaltsamen, verschwörerischen Umsturz, sondern durch einen allmählichen, sozusagen natürlichen historischen Prozeß. Im Innersten war er überzeugt, daß die Fabriken der Suvorins eines Tages in die Hände der Arbeiter übergehen würden, ohne daß dabei ein Schuß fallen müßte. Seltsamerweise hatte sein frühes Interesse am Marxismus die zaristischen Behörden davon überzeugt, daß dieser harmlose Professor dem Staat nicht gefährlich werden könne.
    Zwischen den beiden Brüdern, dem reichen Industriellen und dem armen Professor, dem Familienvater und dem einsamen Junggesellen, bestand eine merkwürdige Beziehung. Sie hingen aneinander, wenn auch Spannungen unvermeidlich waren. Diese resultierten vor allem daher, daß Vladimirs zweite Frau, eine hübsche Person, die in

Weitere Kostenlose Bücher