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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Moskau ein großes Haus führte, Mitleid für diesen freundlichen Schwager empfand. Sie betrachtete ihn als armen Unglücklichen. Ihrer Ansicht nach sollte Peter heiraten, doch sie hielt ihn für zu schüchtern.
    Wenn die Versammlung jenes Abends auch klein war, war Peter doch von ihrer Bedeutung überzeugt, und es lag ihm daran, sie erfolgreich zu gestalten. Während er sprach, versuchte er die Reaktion der Zuhörer richtig einzuschätzen. Mit größter Genauigkeit gab er diesen jungen Leuten einen Überblick über die Entwicklungen in Europa. Drei Jahre zuvor hatte es eine wichtige Konferenz, die Zweite Internationale, mit Abgeordneten vieler Länder gegeben. Im vergangenen Jahr hatten erstmals Arbeitergruppen in Rußland den Ersten Mai als Zeichen der Solidarität mit der internationalen Arbeiterbewegung gefeiert. Erst als Peter Suvorin sicher war, daß er die Zuhörer auf seiner Seite hatte, schnitt er das für ihn wichtige Thema an. Es handelte sich darum, daß sie Juden waren. Er begann vorsichtig und geschickt, spielte auf einige Mißstände an: In den vergangenen Jahren hatte sich die zaristische Regierung ganz offen gegen die jüdische Gemeinde gestellt. Es wurde den Juden untersagt, Land zu erwerben, und sie wurden angewiesen, in den Städten zu leben; die Bildungsquoten wurden geregelt, daß nur ein erbärmlich geringer Prozentsatz von jüdischen Studenten zu höheren Studiengängen zugelassen wurde, selbst in den großen Städten im jüdischen Bezirk. Die diesen Bezirk betreffenden Gesetze wurden plötzlich auf eine so hinterhältige Weise verschärft, daß im vergangenen Jahr an die siebzehntausend Juden Moskau verlassen mußten. Schlimmer noch waren die wiederholten Gewaltakte seit den Pogromen von 1881, und die Regierung tat wenig, um diese zu verhindern.
    Aus diesen Gründen hatten in den vergangenen Jahren die jüdischen Arbeiter an die Einsetzung eigener unabhängiger Arbeiterkomitees gedacht. Peter konnte ihnen deswegen kaum einen Vorwurf machen.
    »Die Arbeiter der Welt müssen sich vereinigen«, sagte er. »Alle Gruppen, alle Nationen sollten sich zusammentun.« Er sah diese Vision ganz klar vor sich. »Außerdem hat eure Stimme, wenn ihr Teil einer größeren Bewegung seid, viel mehr Gewicht«, schärfte er ihnen ein.
    Sie hörten ihm höflich zu, aber er merkte, daß sie zweifelten. Da sprach ihn plötzlich ein junger Mann mit wirrem Haarschopf aus den vordersten Reihen an. »Sie sagen, wir sollten Teil einer größeren Bruderschaft werden. Schön und gut. Was aber machen wir, wenn unsere nichtjüdischen Brüder nicht für uns einstehen wollen?«
    Auf diese Frage hatte Peter gewartet. Es traf zu, daß die russischen Arbeiter ihren jüdischen Brüdern gegenüber gemischte Gefühle hegten. In Rußland waren sie Ausländer; im jüdischen Bezirk galten sie als Konkurrenz. Im übrigen waren sie sogar Aktivisten und Sozialisten, denen es nicht gelungen war, gegen die Pogrome aufzustehen, aus Furcht, sich die Arbeiter zu entfremden, die sie doch für ihre Sache gewinnen wollten.
    Peter war zu ehrlich, um das Problem zu leugnen; aber er sehe darin eine Übergangsphase, versicherte er dem jungen Mann. »Vergessen Sie nicht, daß wir ganz am Anfang stehen. Wenn die Bruderschaft an Größe und Bewußtsein zunimmt, wird sich dieses Problem lösen.«
    Eine lange Pause trat ein. Peter war nicht sicher, ob er den jungen Mann überzeugt hatte. Schließlich wurden weitere Fragen gestellt. Als die Versammlung dem Ende zuging, stand das Mädchen auf. Sie saß ziemlich weit hinten, hinter einem großen jungen Mann, und Peter hatte nur ihre schwarze Haarmähne wahrgenommen. Nun starrte sie ihn plötzlich mit großen, leuchtenden Augen an, einen Ausdruck großer Verwirrung im Gesicht. Rosa Abramovitsch hatte den Ausführungen Peter Suvorins aufmerksam gelauscht. Als sie jedoch an ihr eigenes Leben dachte und daran, was in der Ukraine geschehen war, stand sie vor einem Rätsel. Wie waren Peters Worte und ihre eigenen Erlebnisse vereinbar? Deshalb fragte sie nun mit sanfter Stimme: »Wenn also die neue Welt sich bildet, wenn der sozialistische Staat entstanden ist – bedeutet das, daß die Juden nicht länger verfolgt werden, daß die Menschen sich geändert haben?«
    Peter starrte sie an. Die Frage war von einer derart unerhörten Einfalt, daß er einen Augenblick lang nicht wußte, was er antworten sollte. Er lächelte. »In einem sozialistischen Arbeiterstaat sind alle Menschen gleich. Die Verfolgung von

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