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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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»Natürlich nehmen wir sie auf«, versprach sie. »Mein Mann ist müde. Er wird froh um eine Hilfe sein.«
    Am Nachmittag wurde das Mädchen eingewiesen. »Jetzt bist du sicher«, flüsterte ihr die Großmutter zu, bevor sie ging. In den kommenden sechs Wochen hatte Nikolaj Bobrov viel zu tun. Die Vorhersage seiner Mutter, das junge Mädchen der Romanovs werde von Nutzen sein, hatte sich schnell als richtig erwiesen: Mischa Bobrov wurde plötzlich krank. Er lag im Bett, zu schwach, sich zu bewegen. Nikolaj dachte, daß sie den Alten wohl verloren hätten, wäre da nicht die ständige Pflege des stillen Bauernmädchens gewesen.
    Arina hatte helle Haut und hellbraunes Haar, und wenn man sie auch nicht als hübsch bezeichnen konnte, strahlte ihr eher breites Gesicht eine Ruhe aus, die es sehr anziehend machte. Sie war fromm. Anna und Arina gingen häufig zum Kloster, Tücher um den Kopf geschlungen.
    Neben der Pflege genoß Mischa es vor allem, wenn Arina erzählte. Sie hatte von ihrer Großmutter eine Fülle von Volkssagen gelernt; und oft setzte sie sich ans Bett des Kranken und breitete eine bunte Märchenwelt vor ihm aus.
    »Wenn dein Vater wieder gesund wird, haben wir es nur diesem Mädchen zu verdanken«, sagte Anna zu ihrem Sohn. Tatsächlich sah es so aus, als komme Mischa allmählich wieder zu Kräften. Drei Wochen später besuchte Nikolaj in St. Petersburg kurz seine Frau und die Kinder und kehrte dann wieder zurück. Die versprochenen Getreidevorräte trafen nicht ein. »Ich werde erst gesund, wenn sie kommen«, erklärte Mischa. Der zemstvo und Suvorin sandten Boten zum Gouverneur. Alle paar Tage hieß es, das Getreide treffe in aller Kürze ein. Mitte Februar kam die Nachricht an den örtlichen zemstvo: Bedauerlicherweise könnten die angekündigten Getreidelieferungen aufgrund von Transport- und Lagerungsschwierigkeiten nicht erfolgen. »Sind diese Leute sich im klaren darüber, was das bedeutet?« keuchte Mischa in seinem Bett. »Die Menschen hier werden sterben. Seit zwei Wochen hat niemand mehr einen Fisch aus dem Fluß geholt. Zwei Drittel des Viehs sind verendet. Ich kann nicht glauben, daß selbst diese einfältigen Bürokraten so etwas tun können.« In wenigen Stunden hatte sich die Nachricht in der ganzen Gegend verbreitet. Eine Woche verging. Die Bauern waren niedergeschlagen. Noch eine Woche. Viele Getreidespeicher waren inzwischen leer. Stille senkte sich übers Dorf.
    Doch dann, eines Morgens, kam das Getreide. Die lange Reihe der Schlitten bot einen erfreulichen Anblick; ein, zwei, drei Dutzend. Es war wie der Nachschub für eine kleine Armee. Die Schlitten fuhren in Russka ein, wo Suvorins Verwalter sie in einem Lagerhaus erwarteten. Ein Dutzend der Schlitten zweigte ab und fuhr durch die Wälder nach Bobrovo hinüber, dort den Abhang hinauf zu Mischa Bobrovs Haus. Als sie sich näherten und die Leute im Haus an die Fenster eilten, sahen sie im ersten Schlitten eine mächtige Gestalt sitzen, die, eingehüllt in Pelz, das Gesicht gerötet von der eisigen Luft, wahrhaftig Ähnlichkeit mit einem riesigen russischen Bären hatte.
    Es war der bärenstarke Vladimir Suvorin, der nun mit fröhlichem Schmunzeln aus dem Schlitten stieg und auf Mischa zuging, der es vor Aufregung nicht mehr im Bett ausgehalten hatte und, in eine Bettdecke gehüllt, dastand; Vladimir drückte ihn fest an sich. »Hier bringe ich Ihnen und Ihrem Dorf Getreide, Michail Alexejevitsch. Wir können meinen alten Freund doch nicht hungern lassen!«
    »Was habe ich euch gesagt?« rief Mischa seiner Frau und seinem Sohn zu. »Nur Suvorin kann das zuwege bringen! Aber wie, zum Teufel, haben Sie das dem Gouverneur abgeluchst?« fragte er Suvorin.
    »Die Behörden haben kein Getreide. Niemand bekommt eine Zuteilung, mein lieber Freund.« Mischa runzelte die Stirn. »Und dies hier?«
    »Das habe ich gekauft. Meine Mittelsmänner haben es entdeckt und es aus dem Süden den ganzen Weg herbefördert. Die Behörden haben damit gar nichts zu tun.«
    Zuerst konnte Mischa nicht sprechen. Nikolaj sah, wie Tränen in die Augen des alten Mannes stiegen. Er hielt Suvorin am Ärmel fest, dann murmelte er: »Wie kann ich Ihnen danken, Vladimir Ivanovitsch?«
    Doch dann warf er plötzlich den Kopf zurück und schrie in einem Anfall von Enttäuschung, Scham und Verachtung: »Dieser verdammte Gouverneur! Diese verdammte Regierung in St. Petersburg! Ich sage euch, diese Leute nützen uns gar nichts. Sie sollen den örtlichen zemstvos Macht geben,

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