Russka
eingeteilt, und jede Klasse durfte nur eine bestimmte Anzahl von Vertretern entsenden. Nach der Berechnung dieses Systems galt die Stimme eines Adligen wie Bobrov dreimal soviel wie die von drei Kaufleuten, fünfzehn Bauern oder fünfundvierzig Arbeitern aus den Städten. Gleichzeitig mit den Wahlen verabschiedete die Regierung jedoch ein Programm, das unter der überholten Bezeichnung »Grundrechte« bekannt wurde. Dadurch wurde der ersten Kammer eine zweite vorgesetzt, deren Mitglieder zur Hälfte vom Zaren ernannt, die übrigen durch streng konservative Elemente ausgesucht wurden. Dies lähmte die Duma nachhaltig. Selbst wenn die beiden Parlamente übereinstimmten, hatten sie dennoch keine wirkliche Kontrolle über die Bürokratie, die das Reich tatsächlich regierte. Weiterhin hatte der Zar die Autokratie bestätigt, sich das Recht vorbehalten, die Duma nach seinem Belieben aufzulösen. Ferner hatte er bekräftigt, daß er, wenn die Duma nicht tagte, gemäß einer entsprechenden Notverordnung regieren konnte. »Mit anderen Worten, diese Maßnahmen sind typisch russisch«, war Nikolajs Resümee. »Es gibt ein Parlament, und auch wieder nicht. Es darf sich äußern, aber nicht handeln. Der Zar gibt, und der Zar nimmt.«
Warum sollte er also fröhlich sein, als er an jenem Abend in Frau Suvorins Wohnzimmer trat? Erst einmal hatten die Sozialisten die gesamten Vorgänge boykottiert und keine Kandidaten aufgestellt; zum zweiten traf die Annahme des Zaren, die Mehrheit des niederen Adels und der Bauern werde loyal sein und konservative Kandidaten wählen, keineswegs zu. Die überwältigende Mehrheit wählte gegen das Regime und führte eine große Anzahl Fortschrittsliberaler zurück.
Nikolaj blickte sich interessiert im Festsaal um. Frau Suvorin begrüßte ihn liebenswürdig. »Ich habe meine Sache gut gemacht«, lächelte sie. »Wir haben von fast jeder politischen Richtung jemanden hier.« Nikolaj lächelte ebenfalls. Es war typisch für die Lage im zaristischen Rußland, daß im Augenblick nahezu alle politischen Parteien im Grunde illegal waren. Die Duma begann ihre Befreiungsaktionen mit Parteien, die offiziell nicht existierten. Frau Suvorin hatte nicht zuviel versprochen. Nikolaj erkannte bald einige Herren, die als einwandfreie Konservative ausgewiesen waren und die Duma abschaffen wollten. »Deine Freunde«, sagte er schmunzelnd zu seinem Sohn. Da gab es konservative Liberale, die eine Zusammenarbeit zwischen Duma und Zaren wünschten, und da waren Männer wie er, Konstitutionelle Demokraten, abgekürzt KD, auch »Kadetten« genannt. Sie waren entschlossen, den Zaren zu einer echten Demokratie zu drängen. »Wie steht es mit den Parteien der Linken?« fragte er.
Damals gab es zwei von ihnen, die Sozialistischen Revolutionäre, die den Bauernstand vertraten, leider jedoch teilweise terroristischen Methoden anhingen; weiterhin die Sozialdemokratische, die Arbeiterpartei. »Ich möchte Sie mit meinem Schwager, Professor Peter Suvorin, bekannt machen«, sagte da die Gastgeberin leichthin.
Peter und Rosa Suvorin kamen nicht oft in das große Haus Vladimirs. Die beiden Brüder schätzten einander, doch ihre Wege hatten sich seit langem getrennt. Rosa und Frau Suvorin hatten einander wenig zu sagen. Wäre da nicht die Freundschaft ihrer Kinder gewesen – die beiden Familien wären wohl kaum zusammengekommen.
Rosa hatte drei Kinder geboren, doch nur eines blieb am Leben: Dimitrij, ein dunkelhaariger Junge, drei Jahre älter als Nadeschda. Die Kinder hatten sich an einem Weihnachtsfest kennengelernt, als Nadeschda drei Jahre alt war, und hatten sogleich Sympathie füreinander empfunden. Da das Mädchen unentwegt nach ihm verlangte, wurde Dimitrij häufig eingeladen, doch ließ Frau Suvorin ihre Tochter nie in das bescheidene Haus des Vetters gehen. Dennoch schien sie die beiden Kinder gern zusammen zu sehen. An diesem Abend jedoch hatte Frau Suvorin besonderen Wert auf die Anwesenheit des marxistischen Professors gelegt. »Er ist meine Verbindung zu all den Leuten von der extremen Linken«, hatte sie ihrem Mann erklärt. »Es wird Zeit, daß ich sie besser kennenlerne.« Sie wußte ein wenig über die Sozialdemokraten, und sie war sich darüber im klaren, daß sie sich in den vergangenen Jahren in zwei Lager gespalten hatten, von denen das kleinere die extremere Richtung vertrat. »Mit der typischen russischen Ungenauigkeit bezeichnet sich die Mehrheit als die kleine Partei und die Minderheit als die große –
Weitere Kostenlose Bücher