Russka
wirklich Stehlen sei. Was macht es schließlich aus, sagte er sich, wenn ich es von einem Reichen nehme?
Die Wintermonate waren hart; man konnte sie nicht im Freien verbringen. Ivanuschka wanderte als isgoj von Kirchen zu Klöstern und nahm jegliche Wohltätigkeit in Anspruch. Mehrmals war er nahe am Erfrieren.
Einmal sah er seinen Vater. Eines Tages im Frühling wanderte er durch die Wälder bei Tschernigov, als er plötzlich das Getrappel herannahender Hufe hörte und eine Reitertruppe in Sicht kam. Er versteckte sich hinter einer Eiche, als Edelleute mit ihrem Gefolge vorbeiritten. Er sah den jungen Fürsten Vladimir unter ihnen und – ganz in seiner Nähe – seinen Vater und den Bruder Svjatopolk. Ivanuschka war beschämt lieber Gott, betete er, laß sie mich nur nicht sehen! War nicht er der Versager, ein Ausgeschlossener aus dieser glitzernden Welt? Er hätte eine Begegnung mit ihnen nicht ertragen. Und doch konnte er seine Augen nicht von ihnen wenden.
Am Ende des Zuges ritten zwei Frauen nebeneinander – eine junge Dame, die andere noch ein Mädchen. Sie waren kostbar gekleidet und saßen mit anmutiger Leichtigkeit zu Pferd. Beide waren blond und blauäugig – blonder als alle Frauen, die Ivanuschka bisher gesehen hatte. Staunend sah er ihnen nach. Die Erinnerung an die beiden verfolgte ihn und erinnerte ihn daran, daß er nicht mehr war als ein Tier des Waldes.
In jenem Frühjahr, als Ivanuschka sich zufällig in der Nähe Russkas befand, machte er einen letzten Versuch, wieder zu sich selbst zu finden. Es kann so nicht weitergehen, beschloß er. Entweder ich mache allem ein Ende, oder ich gehe ins Kloster. Der Gedanke an den Tod erschreckte ihn. Und keine Klosterregel konnte schlimmer sein als das Leben, das er führte. Also war die Entscheidung klar. Doch ein Problem blieb bestehen – er hatte kein Geld mehr. An einem warmen Frühlingsmorgen blickte Zhydovyn aus dem Lagerhaus in Russka und sah eine schäbige Gestalt herumlungern. In Russka war es an jenem Tag sehr ruhig. Das kleine Fort, zur Zeit unbewacht, war fast leer.
Der Chazare erkannte den Mann sofort, doch er gab kein Zeichen. Erst gegen Mittag kam der Wanderer mit ungelenken Schritten auf ihn zu. »Du weißt, wer ich bin?«
»Ja, Ivan Igorevitsch.« Der Chazare bewegte sich nicht. Ivanuschka nickte langsam. »Du warst einmal gut zu mir. Könnte ich etwas zu essen bekommen?«
»Natürlich.« Zhydovyn lächelte. »Komm herein.« Er überlegte, wie er den jungen Mann aufhalten könnte. Wenn er selbst versuchen würde, ihn zu ergreifen, konnte er ihn wahrscheinlich nicht festhalten. Doch am Nachmittag sollten zwei seiner Männer ins Lagerhaus kommen. Mit ihrer Hilfe könnte er den Jungen in Gewahrsam nehmen und zurück zu seinen Eltern in Perejaslavl schicken. Er ließ Ivanuschka einen Moment allein und ging in den Hinterhof, wo er seine Unterkunft hatte. Wenige Minuten später kam er mit einer Schale Kwaß und einem Stück Hirsekuchen zurück. Ivanuschka aber war verschwunden.
Der Chazare hatte vergessen, daß Ivanuschka sein Geldversteck kannte. Dort war kein großer Betrag gewesen, aber genug für eine Reise flußabwärts und sogar bis Konstantinopel. Jedenfalls bekomme ich die Stadt zu sehen, dachte Ivanuschka. Er bestahl den Chazaren nicht gern, auch nicht für einen guten Zweck. Aber es war ja kein richtiger Diebstahl – sein Vater konnte das Geld zurückgeben. Der Vater würde froh sein zu erfahren, daß Ivanuschka endlich abgereist war. Während er so durch die Wälder ging, war er fest davon überzeugt, daß seine Reise nun zu den griechischen Klöstern gehen würde. Doch auch diesen festen Vorsatz vergaß er bald wieder.
Zhydovyn hatte sich für seine Dummheit verwünscht, und er überlegte, was er Ivanuschkas Eltern erzählen sollte. Nach längerem Nachdenken beschloß er, den Eltern nichts zu sagen. Was er auch sagen mochte, es würde ihnen Kummer machen. Ivanuschka saß allein an der Anlegestelle und starrte ausdruckslos aufs Wasser. Er wußte, daß das Schiff die letzte Gelegenheit gewesen war, die kaiserliche Stadt noch vor Einbruch des Winters zu erreichen.
An diesem Morgen hatte er festgestellt, daß ihm vom gestohlenen Geld nur noch acht Silbergrivna geblieben waren. Gerade genug für die Fahrt. Alles andere hatte er seit dem Frühjahr ausgegeben. So schleppte er sich zur Anlegestelle, fest entschlossen, die Reise nun anzutreten. Doch zu seinem Entsetzen war das Schiff schon ausgelaufen.
Jetzt ist alles aus, dachte
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