Russka
Baumgruppe hervor. »Das ist er!«
»Holt ihn!« befahl der Edelmann.
Und so fand sich kurz darauf Svjatopolk zu seinem größten Erstaunen Auge in Auge mit seinem Bruder Ivanuschka, der ihn in dumpfem Schweigen ansah.
»Laß den Bauern gehen, er hat seine Schulden bezahlt«, sagte Svjatopolk ruhig. »Und zu diesem Vagabunden«, dabei deutete er auf Ivanuschka, »werft ihn ins Gefängnis.«
Die Kerze war angezündet. Die Reste des Mahles auf dem Tisch wurden von den Sklaven abgeräumt.
Igor saß in einem schweren Eichenstuhl. Sein grauer Kopf war nach vorn auf die Brust gesunken. Seine Augen waren offen, aufmerksam, das Gesicht ruhig, doch angespannt. Seine Frau saß auf einem Stuhl neben ihm. Man sah, daß sie geweint hatte. Jetzt aber war, auf Befehl ihres Gemahls, ihr Gesicht unbeweglich. Svjatopolk sah mit kaum verhohlenem Zorn vor sich hin. Welch unseliger Fluch hatte seinen Vater veranlaßt, zur Stadtmauer zu gehen, als Ivanuschka soeben ins Gefängnis gebracht wurde, wo er aus dem Weg gewesen wäre! Inzwischen wäre er schon ertrunken, dachte Svjatopolk. Er wußte nicht, daß Ivan sich selbst in den Fluß stürzen wollte, und so war seine Absicht gewesen, ihn nachts an den Fluß zu führen und ihn unter Wasser zu drücken. Doch das Schicksal hatte eingegriffen. Der Vater hatte zwar böse dreingeblickt, als sie einander begegneten. Er hatte seinen Jüngsten wie einen Gefangenen nach Hause geführt. Und nun mußte dieser beim Abendessen Erklärungen abgeben. Igor hatte Fragen gestellt, während seine Frau stumm danebensaß.
Nun faßte Igor zusammen: »Du hast mich, uns, angelogen. Du hast sogar gestohlen. Mit keinem Wort hast du uns wissen lassen, daß du noch am Leben bist. Du hast deiner Mutter das Herz gebrochen. Und jetzt hast du wieder gestohlen und das Geld einem Fremden gegeben, und von hier aus, wo deine Eltern leben, wolltest du dich heimlich davonmachen.«
Svjatopolk fand, daß die Anklage nicht umfassender sein konnte. Er sah zufrieden drein, während niemand sprach. Aber Igor vergab seinem Sohn. Und der lange russische Winter, furchtbar in seiner mächtigen Kälte, wurde für Ivanuschka zu einer Zeit der Heilung.
Im Herbst, gleich nach seiner Rückkehr, brach er erst einmal körperlich und seelisch zusammen. Es begann mit einer Erkältung, die sich zu einer schweren Krankheit mit starken Schmerzen ausweitete. Die Mutter war seine Rettung, wahrscheinlich weil sie als einzige ihn verstand. Als der Vater nach einem armenischen oder syrischen Arzt am Fürstenhof schicken wollte, nach einem Mann mit Erfahrung in der Heilkunst der antiken Welt, weigerte sich Olga. »Wir haben alte Hausmittel, die besser sind als die Medizin der Griechen und der Römer«, behauptete sie fest. »Aber benachrichtige das Kloster, wenn du willst, und bitte die Mönche um ihr Gebet.« Dann verschloß sie die Tür des Zimmers, in dem ihr Sohn lag, und ließ niemanden ein.
Während er sich hustend wälzte, war sie stets um ihn, kühlte ihm die Stirn von Zeit zu Zeit. Sie sprach nur, wenn er zu sprechen wünschte.
Draußen fielen die Herbstregen, und die Erde verwandelte sich in dicken schwarzen Morast. Darüber hing schwer der graue Himmel. Dann kam der Schnee. Am ersten Tag fiel er in weichen grauen Wirbeln herab. Am nächsten Tag brauste ein Schneesturm. Am dritten Tag jedoch kam der Schnee sanft vom Himmel, die Flocken waren so groß und weich wie Federn. Ivanuschka wurde langsam gesund.
Eine Woche nach dem ersten Schnee wurde Ivanuschka an einem leuchtenden Sonnentag, in Pelze gehüllt, auf die hohe Mauer von Perejaslavl getragen. Unter dem kristallklaren Himmel glänzten die goldenen Kuppeln der Kirchen im Sonnenlicht. Unten zog der Fluß an einem weißen Ufer vorüber, und am fernen Horizont bildeten die Wälder eine dunkel glitzernde Linie. Die Steppe dehnte sich wie ein endloser weißer Teppich.
In diesem Winter starb Svjatopolks Frau plötzlich nach kurzer Krankheit. Obwohl Ivanuschka sie kaum gekannt hatte, hätte er seinen Bruder gern getröstet, aber das wünschte der nicht. Endlich ging der Winter vorüber. Ivanuschka war genesen. Im Frühjahr war er wieder bereit für die Welt. »Mit deiner Hilfe«, sagte er zu seiner Mutter, »wurde ich wiedergeboren.« So tauchte er in das geschäftige Leben von Perejaslavl ein. Während die Fürsten über Kiev im Streit lagen, hatte der umsichtige Fürst Vsevolod seine Hand über Perejaslavl gehalten, dem Angelpunkt der südlichen Grenzbefestigungen, und der Stadt zu
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