Russka
Glücksfall. Für einen Bauern war ein Silbergrivna soviel wie der Lohn von drei Monaten.
Er nahm den Weg durch die Wälder und an den Lichtungen vorüber, wo die Frauen Pilze suchten. Er ging am Weiher vorbei, wo, wie die Dorfbewohner sagten, rusalki wohnten. Dann kam er an einen Kreuzweg. Der Pfad zur Rechten, das wußte Schtschek, führte zum Besitz des Fürsten. Der linke Pfad führte nach Norden und lief an einer Stelle vorbei, an der ein Dorfbewohner von einem Bären getötet worden war; nur wenige Menschen nahmen diesen Unheilsweg.
Aus einer Laune heraus entschloß sich der Bauer dennoch für diesen Pfad. Dieser Ivanuschka hat mir Glück gebracht, befand er. Ich habe heute nichts zu befürchten.
Nördlich von Russka machte der Fluß eine Biegung um einen niedrigen, bewaldeten Hügel. Dichtes Unterholz bedeckte den Fuß des Hügels, vor allem Brombeere und Weißdorn. Es war keine einladende Stelle, und der Mann hätte nicht angehalten, wäre nicht in einer Entfernung von etwa hundert Metern ein großer Fuchs zwischen den Büschen verschwunden.
Ein Fuchsfell ist wertvoll, dachte Schtschek, arbeitete sich durch die Büsche und stieg auf den Hügel. Minuten später hatte er den Fuchs vergessen und grinste entzückt: Der von Eichen und Kiefern dichtbestandene Hügel, den nie jemand aufsuchte, war eine wahre Schatzkammer – er war von Bienenvölkern übersät. Schtschek zählte über zwanzig. Der Mann konnte den starken, sämigen Geruch des Honigs hoch oben in den Bäumen wahrnehmen. Am Ende lachte er laut vor Vergnügen. Dieser Ivanuschka hat mir mehr Glück gebracht, als er wissen kann, sagte er sich. Er hatte nicht vor, irgend jemandem davon zu erzählen, und er wußte auch schon, wie er sich die Entdeckung zunutze machen konnte. Vielleicht komme ich damit eines Tages doch frei, frohlockte er.
1075
Nach der allgemeinen Ansicht hatten wenige Männer so viel Glück wie Igor, der Bojar. Sein Herr, Fürst Vsevolod von Perejaslavl, überschüttete ihn geradezu mit Geschenken. Niemandem in des Fürsten druzina wurde so viel Ehre zuteil. Die bedeutendsten Edelleute hatten nun einen neuen Status: Statt des alten Blutgeldes von vierzig grivna galt ihr Leben jetzt achtzig. Selbst eine Beleidigung ihrer Person wurde mit einer Strafe geahndet, die viermal so teuer war wie das Leben eines smerd. Igor war dieser hohe Status zuerkannt worden. Mehr als das: Der Fürst von Perejaslavl war so beeindruckt von seinem loyalen Untertan, daß er ihm ein Jahr zuvor die Herrschaft über ausgedehnte Ländereien an der Südostgrenze des Fürstentums, den Weiler von Russka mit einbezogen, übergeben hatte. Mit den Landübereignungen begann der Prozeß, in dem der Begriff des Bojaren, der ursprünglich für einen Gefolgs- oder Edelmann der druzina verwendet wurde, schließlich einen Landbesitzer bezeichnete. Doch bei all seiner überlegenen und rührigen Art war Igor von Trauer erfüllt. Boris war tot. An einem Wintertag war er in einem Gefecht am Rand der Steppe gefallen. Auf einem Schlitten hatte man den Toten zurückgebracht.
Boris' Tod hatte eine Wunde hinterlassen. Auch eine zweite Wunde schmerzte: der Verlust Ivanuschkas.
Wo mochte er wohl sein? Einen Monat nach seiner Abreise nach Konstantinopel hatte er von Zhydoyvn gehört, Ivanuschka sei in Russka gesichtet worden. Wo aber war er danach hingegangen? Russische Kaufleute in Konstantinopel berichteten, er sei dort nie angekommen. Seit drei Jahren hatten seine Eltern keinerlei Nachricht, ob er lebte.
»Er sucht nach irgend etwas«, tröstete sich seine Mutter. »Er schämt sich«, glaubte der Vater traurig. »Wie auch immer«, war Svjatopolks Kommentar, »er liebt keinen von uns, wenn er sich so verhält.«
Wie lange Ivanuschka schon unterwegs war! Im ersten Jahr wollte er des öfteren nach Süden aufbrechen, zumindest fand er Kaufleute, die ihn hätten mitnehmen können. Doch jedesmal hielt ihn eine innere Macht zurück. Als das Geld aufgebraucht war, begann er zu spielen. Wenn ich gewinne, überlegte er, heißt das, Gott möchte, daß ich ins Kloster gehe. Aber wenn ich mein ganzes Reisegeld verliere, will er es offensichtlich nicht. Das erschien Ivanuschka als ein gutes Argument – er brauchte nicht lange zu spielen, bevor er verlor.
Die Zeit verging, und er wurde völlig lethargisch. Immer häufiger zechte er nächtelang. Er wanderte ziellos von Stadt zu Stadt. Im zweiten Jahr begann er zu stehlen. Es waren nur kleine Beträge, und er redete sich ein, daß das nicht
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