Russka
theoretisch konnte er leben und sich verdingen, wo und bei wem er wollte. Er durfte auch Schulden machen.
In Gedanken überschlug er sie. Zuerst das Pferd. Das war nicht seine Schuld gewesen; das Tier hatte gelahmt und war dann gestorben. Und da er verpflichtet war, dem Fürsten für seine Soldaten in Kriegszeiten ein Pferd zu stellen, mußte er ein neues kaufen. Außerdem trank er gern und würfelte um Geld. Und wegen seines schlechten Gewissens kaufte er seiner Frau ein Silberarmband. Wieder lieh er sich Geld, spielte weiter, um es zurückzubekommen. Nun schuldete er als Gemeindemitglied dem Verwalter des Fürsten eine Steuer auf seinen Pflug, und er wußte, daß er sie nicht bezahlen konnte.
Erwartungsvoll sprach er Ivanuschka an.
Als Zhydovyn an jenem Abend zurückkam und den Verlust der Pelze entdeckte, schüttelte er nur den Kopf. Nein, es stand schlecht um Ivanuschkas Aussichten. Und obwohl kein Wort fiel, spürte der Junge, daß man ihn wohl nicht mehr nach Russka schicken würde. Den Verlust der Felle konnte der Chazar noch verstehen, aber warum fehlten zwei Silbergrivnas von dem Geld, das er Ivanuschka dagelassen hatte? Der junge Mann behauptete, er habe sie verloren. Wie zum Teufel konnte das geschehen? Es war unbegreiflich. Ivanuschka machte das nichts aus. Er hatte nach dem Verlust der Pelze ohnehin nichts mehr zu erwarten. Schtschek hatte ihm leid getan. Wenigstens konnte der nun seine Steuern bezahlen. Ivanuschka dachte kaum noch an diesen Vorfall.
1072
Für Ivanuschka war alles noch schlimmer geworden. Einige Wochen nach dem peinlichen Zwischenfall in Russka hörte er zufällig eine kurze Unterhaltung zwischen seinen Eltern: »Ivanuschka hat so viel gute Seiten«, sagte die Mutter eindringlich. »Eines Tages wird er etwas tun, worauf du stolz sein kannst.«
»Nein«, war die Stimme des Vaters zu vernehmen, »dessen bin ich jetzt sicher. Ich habe es aufgegeben. Ich liebe alle meine Kinder, aber es ist schwer, ein Kind zu lieben, das einen immer enttäuscht.« Ja, dachte Ivanuschka unglücklich, warum sollte irgend jemand mich lieben? Er war träge geworden, unternahm sowenig wie möglich, aus Angst, wieder zu versagen.
Oft trieb er sich auf dem Marktplatz in Perejaslavl herum. Dort war immer etwas los. Täglich konnte eine Ladung Öl oder Wein aus Konstantinopel oder eine Sendung Eisen aus den Sümpfen am Fluß, für Kiev bestimmt, eintreffen. In den Werkstätten wurde Glas geblasen, so fein wie nirgendwo im Lande der Rus. Es gab Stände, wo Bronzespangen und Schmuck verkauft wurden, und andere mit Lebensmitteln.
Ivanuschka schaute nur und bemerkte nach und nach, daß um ihn herum noch andere Dinge im Gange waren. Ein Verkäufer an einem Stand gab den Kunden immer zuwenig Wechselgeld heraus; ein anderer maß zu knapp. Eine Bande von Jungen stahl Fisch von den Ständen und Geld von den Kunden. Ivanuschka bewunderte die Flinkheit, mit der das alles vor sich ging. Einmal nahm er selbst einen Apfel weg, nur um auszuprobieren, wie einfach das sei. Niemand entdeckte ihn.
Doch die Sinnlosigkeit seines Lebens machte ihn tiefunglücklich. Er spürte immer noch die Sehnsucht seiner Kindheit in sich, seinem Schicksal zu begegnen. Da sich alle anderen Möglichkeiten zerschlagen hatten, erklärte er seinen Eltern schließlich, daß er nun doch Mönch werden wolle. »Bist du sicher?« fragte der Vater in einem Ton, der seine Hoffnung verriet, der Sohn möge seine Meinung nicht ändern. Selbst seine Mutter hatte keine Einwände mehr.
An jenem Abend machte der Vater Pläne. »Er kann auf den Berg Athos gehen. Ich habe Freunde hier und in Konstantinopel, die ihm helfen können. Von dort aus«, Igor lachte zufrieden, »kann er eine große Karriere machen.«
Am nächsten Tag nahm der Vater Ivanuschka beiseite und versicherte ihm: »Du brauchst dich um deine Reise nicht zu sorgen, Ivan. Ich werde sehen, daß alles gut vorbereitet ist. Und das Kloster bekommt eine Spende.«
Selbst Svjatopolk, der zweifellos froh war, den Bruder loszuwerden, sagte in freundlich klingendem Ton: »Nun, Kleiner, du hast am Ende doch den richtigen Kurs gewählt. Eines Tages werden wir alle stolz auf dich sein.«
Sie waren stolz auf ihn. In zwei Tagen sollte die Abreise sein. Warum aber sah er so bekümmert drein wie eh und je? Am Morgen glitten die beiden Boote, eines mit Waren beladen, das andere mit einigen Reisenden, still auf dem breiten, fahlen, leicht bewegten Fluß dahin. Über ihnen hing ein verwaschener blauer
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