Russka
Himmel.
Ivanuschka war gut ausgerüstet. Der Beutel mit Silbergrivnas, den der Vater ihm gegeben hatte, war sicher an seinem Gürtel befestigt. »Da du Mönch wirst, hast du dein Erbe lange vor mir bekommen«, hatte Svjatopolk beim Abschied trocken bemerkt. Nun trug der große Dnjepr ihn nach Süden auf sein Schicksal zu. Sie waren den ganzen Morgen gefahren, und Ivanuschka wollte gerade seine Augen für ein Mittagsschläfchen schließen, als er durch einen lauten Schrei vom vorderen Boot aus aufgeschreckt wurde: »Rumänen!« Die Reisenden blickten angestrengt nach vorn. Es gab keinen Zweifel – die dunklen türkischen Gesichter in dem langen Boot, das vom rechten Ufer abstieß, gehörten sicher Kumanen. Die Reisenden hatten allen Grund, überrascht zu sein. Man hatte angenommen, daß die Kumanen um diese Zeit weit entfernt in ihren Lagern in der Steppe sein würden. Man hatte auch kaum je gehört, daß sie auf dem Wasser angriffen. Gewöhnlich warteten sie weiter südlich, wo es Stromschnellen gab, um die Karawanen zu überfallen.
»Sie haben ein paar Slawen gezwungen, sie hinauszurudern«, murmelte jemand, und Ivanuschka sah, daß die Ruderer tatsächlich unselige slawische Bauern waren. Nun nahm einer der Kumanen einen langen geschwungenen Bogen. Ein Pfeil flog übers Wasser, und ein Mann im Lastenboot sank zusammen. »Wir müssen das linke Ufer erreichen«, schrie der Schiffer vom kleinen Boot.
Das jedoch war noch weit entfernt. Die Ruderer ächzten unter der Anstrengung, und das Boot glitt rasch dahin. Als Ivanuschka sich umwandte, sah er, daß das Lastenboot bereits verloren war. Er überlegte, ob die Kumanen sich damit zufriedengeben würden. Doch da sah er, daß ein zweites Kumanenboot hinter ihnen herkam.
»Da drüben ist ein kleiner Nebenarm«, rief der Schiffer. »Ein paar Meilen weiter liegt ein Fort. Dorthin fahren wir.« Ivanuschka merkte, daß er ein Gebet murmelte. Denn er kannte das fragliche Fort sehr wohl.
Es war seltsam, wieder in Russka zu sein. Zhydovyn war nicht da, doch ein halbes Dutzend Soldaten hieß sie willkommen. Die Kumanen hatten die Verfolgung aufgegeben, aber die Reisenden beschlossen, zwei Tage im Fort abzuwarten, bevor sie das Schicksal wieder herausforderten.
Ivanuschka lief um das Fort herum, ging ins Dorf und wanderte auf stillen Pfaden in den Wald; er fühlte sich dabei merkwürdig zufrieden. Er ging sogar an den Rand der Steppe und blickte über das Federgras zu dem alten kurgan hinüber.
Am dritten Tag wurde die Reise fortgesetzt. Ivanuschka blieb zurück. Er wußte selbst nicht, warum. Er sagte sich, die Vorsehung habe ihm einen Aufschub gegönnt. Ich kann hier eine Pause einlegen, mir über das Leben klarwerden, mich auf meine Reise vorbereiten, beruhigte er sich. Die Tatsache, daß alle Entscheidungen bereits getroffen waren und er schon unterwegs war, schob er weit von sich. Den ganzen dritten Tag lief er am Fluß auf und ab. Am folgenden Tag traf er Schtschek wieder. Der Bursche war schmaler geworden. Er begrüßte Ivanuschka herzlich. Als der sich erkundigte, ob die Schulden inzwischen bezahlt seien, grinste Schtschek einfältig. »Ja und nein«, war seine Antwort, »ich bin ein zakup.«
Als zakup bezeichnete man einen Mann, der seine Gläubiger nicht zufriedenstellen konnte und deshalb für sie wie ein Sklave arbeiten mußte, bis die Schuld getilgt war. Da aber die Schuld während dieser Zeit um die Zinsen anwuchs, kamen die Unseligen selten frei. »Ich habe den Verwalter des Fürsten dazu gebracht, meine Schulden zu übernehmen«, erklärte Schtschek, »und so arbeite ich jetzt für den Fürsten.«
»Wann wirst du wieder frei?«
Der Bauer lächelte wehmütig. »In dreißig Jahren. Und was machst du, junger Herr?« fragte er.
Ivanuschka erzählte ihm, daß er auf große Reise nach Konstantinopel und Griechenland gehe, um Mönch zu werden. Schtschek nickte verständnisvoll. »Also wirst auch du nie wieder frei sein«, bemerkte er, »genau wie ich.«
Ivanuschka sah dem Bauern aufmerksam ins Gesicht. Diese Ähnlichkeit zwischen ihnen war ihm noch gar nicht aufgefallen. Aber der Mann hatte wohl recht. Er faßte in den Beutel und gab Schtschek einen Silbergrivna. Dann ging er weiter. Am folgenden Tag verließ er Russka und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Dnjepr.
Nachdem er sich von Ivanuschka verabschiedet hatte, wanderte Schtschek vom Dorf weg auf die Steppe zu. Er war guter Laune. Das unerwartete Geschenk des jungen Edelmannes war ein wirklicher
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