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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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geschrieben, aber er würde ihr Geheimnis bewahren. Wann hatte alles begonnen? Vielleicht wirklich schon ganz am Anfang: Sie hatte Peter Suvorin geheiratet, als sie noch Depressionen hatte. Das war ihre Schuld. Doch sie hatte ihn leidenschaftlich geliebt. Nein, dachte sie, der wirkliche Anfang lag im Jahr 1900, als Dimitrij fünf Jahre alt war und der Brief aus Amerika eintraf. Seit ihrer Heirat hatte Rosa wenig Kontakt mit ihrer Familie in Wilna gehabt. Vier Jahre danach verstarb ihre Mutter unerwartet, und der ältere Bruder wanderte mit seiner Familie nach Amerika aus. 1899 folgte ihr zweiter Bruder. Ihr Weggehen hatte Rosa nicht überrascht – viele Juden wanderten damals und in den folgenden Jahren aus. Im Jahre 1914 hatten etwa zwei Millionen Juden Rußland in Richtung Vereinigte Staaten verlassen, und die zaristische Regierung war froh darüber.
    Darum kam der Brief ihres zweiten Bruders, der normalerweise ungern schrieb und von dem sie das letztemal einige Monate vor seiner Auswanderung gehört hatte. Nun aber gab er einen genauen Bericht von der Überfahrt und von den Neuigkeiten der Familie. Der Brief schloß mit einem langen Absatz:
    Wir kamen nach Ellis Island. Einen Augenblick lang erschrak ich. Als ich das große, mit Platten verkleidete Gebäude und die Reihen der anderen Einwanderer sah, die zur Überprüfung in der riesigen Halle warteten, dachte ich: Mein Gott, das ist ja wie in Rußland, nur noch schlimmer. Es ist ein Gefängnis! Aber es war bald überstanden, und wir waren draußen. Und dann… Deshalb schreibe ich Dir, liebe Rosa. Dann waren wir frei. Es ist schwer zu beschreiben. Zu wissen, daß man frei ist! Keine Gendarmen, keine Polizeispitzel. Man kann gehen, wohin man will. Jeder darf wählen. Und ein Jude hat genauso viele Rechte wie jeder andere.
    Deshalb schreibe ich Dir jetzt, liebe Rosa. Ich muß einfach an Dich denken. Natürlich bist du konvertiert und lebst in Moskau. Aber bist zu sicher, daß dir deshalb nichts zustoßen kann? Und der kleine Dimitrij: Nach jüdischer Ansicht ist der Sohn einer Jüdin ein Jude. Ich will damit ja nur sagen, daß Ihr um Gottes willen nach Amerika kommen sollt, wenn die Sache in Rußland schiefgeht. Komm hierher zu uns, ich bitte Dich, wo Deine ganze Familie in Sicherheit sein wird.
    Der Brief hatte in Rosa einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wenn sie auch in den vergangenen Jahren, mit ihrem neuen Leben und dem Kind, selten an die Vergangenheit gedacht hatte, brachte der Brief mit seltsamer Intensität alles zurück. Sie dachte an ihren Vater und all das, was er für sie zu tun versucht hatte. Sie dachte ans Klavierspielen, das sie seit ihrer Heirat völlig aufgegeben hatte. Traurig dachte sie an den Kummer, den sie ihrer Mutter verursacht hatte. Sie stellte sich ihre Brüder vor: Wie gern würde sie sie wiedersehen!
    Der Brief war außerdem Anlaß zur Beunruhigung. Obwohl ihr Bruder nur die Juden als gefährdet erwähnte, entging ihr doch nicht die versteckte Anspielung auf Polizeispitzel und Regimegegner. Auch Peter mit seiner sozialistischen Betätigung konnte sich in Gefahr befinden. Sie hatte vier Wochen lang über den Brief nachgegrübelt, ehe sie ihn eines Morgens Peter zeigte und fragte, was er darüber denke.
    »Schreckliche Idee, Rußland zu verlassen.« Und als sie meinte, es sei vielleicht besser für die Familie, nach Amerika zu gehen, sah er sie nur völlig verständnislos an und empfahl ihr, sich hinzulegen. Rosa hatte festgestellt, daß Peter neben seiner Sanftheit und Güte auch eine seltsame Halsstarrigkeit besaß, die ihn blind machte gegen alles, was nicht in seine Idee vom Universum paßte. Sie würden niemals nach Amerika gehen.
    Wie sehr hatte sie das bedauert! Damals hatte sie es nicht geglaubt. Sie liebte Peter; er war so gut und einfach, und obwohl er anfangs fast eine Vaterfigur für sie gewesen war, wurde es ihr im Laufe der Jahre immer deutlicher, wie sehr er von ihr abhing, und das tat er in rührender Offenheit.
    »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich ohne dich hätte leben können«, sagte er manchmal. Und einmal hatte er ihr gestanden: »Als du damals von Amerika gesprochen hast – das war der schlimmste Tag in meinem Leben. Einen Augenblick dachte ich, du hättest mir erklärt, du wollest dich von allem abwenden, was ich liebe, weißt du. Gott sei Dank ist dieser Wahnsinn vorüber.«
    Er brauchte sie. Er betete sie an. Wie konnte sie ihm also sagen, was mit ihr geschah?
    Im Jahre 1905 hatten die

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