Russka
über Musik schlug Dimitrij vor, den beiden Tschaikovskijs »Jahreszeiten« vorzuspielen, stellte jedoch fest, daß die Partitur nicht im Hause war. Er machte sich also auf, sie von zu Hause zu holen. Er wußte, daß seine Mutter an diesem Abend allein war. Peter befand sich auf einer Versammlung in der Nähe. Deshalb war er überrascht, als er beim Öffnen der Haustür Stimmen aus dem kleinen Salon neben der Diele hörte. Sie gehörten seiner Mutter und Vladimir. Die Stimme seiner Mutter war nur ein leises Murmeln, während Vladimirs sonore Stimme gut zu vernehmen war. »So kann es nicht weitergehen. Komm doch um Himmels willen mit mir nach Deutschland!«
Dann die schwerverständlichen Worte seiner Mutter. »Ich sage dir ehrlich, der Junge ist zur Zeit hier besser aufgehoben. Es gibt keine besseren Musikpädagogen in der Welt als in Rußland.« Seine Mutter sagte noch etwas von einem Brief. Nun wieder die Stimme des Onkels. »Ja, ja. Ich gebe dir mein Wort. Wenn irgend etwas geschieht, bringe ich ihn heraus. Ja, Dimitrij soll nach Amerika gehen, wenn du das willst.« Danach trat eine lange Stille ein, und Dimitrij glaubte, seine Mutter schluchzen zu hören. Er ging lautlos hinaus, zurück zu seinen Freunden, denen er sagte, er habe die Noten nicht finden können.
Es gab keinen Zweifel – Frau Suvorin konnte einen der größten Erfolge ihrer bisherigen gesellschaftlichen Karriere verbuchen. Es war ein persönlicher Triumph: Mitte Juni 1910 hatte sie den Mönch Rasputin zu Gast. Er hatte sich zum Nachmittagstee angesagt, und so hatte Frau Suvorin nur eine relativ intime Gesellschaft vorgesehen: Familienmitglieder, ein paar wichtige Freunde und jene Damen, an denen sie sich rächen wollte: Im Lauf der Jahre hatten sie ihre Eitelkeit verletzt, und nun mußten sie wohl oder übel von diesem Besucher beeindruckt sein, der auf bestem Fuße mit der kaiserlichen Familie stand.
Vladimir war noch im Ausland, doch Frau Suvorin lud Peter und Rosa ein, natürlich in Begleitung von Dimitrij und Karpenko. Und so fanden sich die beiden jungen Leute in der Gesellschaft von etwa vierzig Personen, die ungeduldig die Ankunft des seltsamen Mannes erwarteten.
Fünf Jahre zuvor war Rasputin am Zarenhof erschienen. Die Leute bezeichneten ihn als einen heiligen Mann, obwohl er niemals Mönch war, wie manche irrtümlich glaubten. Tatsächlich hatte er Frau und Kinder im fernen Ural, auch wenn er sie selten aufsuchte. Obwohl in der Hauptstadt Stimmen gegen seinen sündhaften Lebenswandel laut wurden, schrieben ihm viele Menschen übernatürliche Kräfte zu. Es hieß, er habe das zweite Gesicht. Außerdem wußte jeder, daß er in der Kaiserin eine ergebene Bewunderin hatte. Was sie eigentlich in ihm sah, wußte niemand so recht. Der kaiserliche Haushalt war eine Welt für sich, völlig abgetrennt vom Rest der Gesellschaft, und zwar durch eine Phalanx von adligen Höflingen aus alten Soldatenfamilien, die es für ihre Pflicht hielten, die Monarchie so weit wie möglich von dem barbarischen russischen Volk fernzuhalten. Der Zar, seine deutsche Gemahlin, seine Töchter und der kleine Zarevitsch, der Thronerbe, wurden selbst vor prominenten Untertanen so versteckt wie die Familie eines orientalischen Herrschers.
Daß der Thronerbe die entsetzliche, lebensbedrohende Bluterkrankheit hatte und daß dieser außergewöhnliche hypnotische Bauer aus Sibirien ihn anscheinend zu heilen vermochte, ahnte nicht einmal Frau Suvorin. Der Mann, Vertrauter der kaiserlichen Familie, der das schlimmste medizinische Geheimnis im russischen Reich kannte, war nicht unbedingt eine beeindruckende Gestalt; von mittlerer Größe, eher schmächtig, schmalbrüstig, mit abfallenden Schultern. Sein langes dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt; der dichte Bart reichte kaum bis zur Brust. Die stumpfe Nase bog sich stark nach links. Er trug ein einfaches Gewand aus schwarzer Seide, das ihm bis über die Knie reichte. Er hätte ein unbedeutender Priester aus einem der unzähligen Dörfer sein können. Obwohl die Kleidung sauber und der Bart gekämmt war, nahm man einen scharfen Geruch an ihm wahr, der darauf schließen ließ, daß er sich seltener wusch als andere Menschen.
Er verneigte sich höflich vor den Anwesenden und folgte der Aufforderung von Frau Suvorin, auf einem Sofa Platz zu nehmen, wo sie ihm Tee anbot.
Die Gesellschaft ließ sich gut an. Frau Suvorin, zurückhaltender als sonst, führte eine höfliche Konversation mit dem Ehrengast. Die kaiserliche
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