Russka
schrecklichen Träume begonnen. Sie kamen plötzlich und ohne Vorwarnung. Das Thema war immer das gleiche: der Pogrom. Nacht für Nacht kamen die Träume, und sie wachte entsetzt, in kalten Schweiß gebadet, auf. Sie waren so grauenhaft, daß sie sich manchmal fürchtete, zu Bett zu gehen. Während des Wachseins begann sich jetzt eine neue schreckliche Vorahnung in ihren Gedanken zu formen, die schmerzliche Überzeugung, daß Peter und Dimitrij etwas zustoßen würde. Einige Monate nachdem die Träume begonnen hatten, stellte sich ein Weiteres Problem ein, das auch nicht weichen wollte: Sie konnte die Berührungen ihres Mannes nicht mehr ertragen. Nun, fünf Jahre danach, war sie wenigstens auf eines stolz: Peter hatte nie etwas davon bemerkt. Sie liebte ihn. Sie wußte, daß er das nie begreifen würde. Manchmal hatte sie zwar mit ihm geschlafen und dabei unter größter Willensanstrengung ihre Abneigung verheimlichen können. Später hatte sie sich dann immer neue Ausflüchte einfallen lassen, um die nächtlichen Zärtlichkeiten zu umgehen, dafür aber hatte sie ihn tagsüber mit ihrer Zuneigung überhäuft.
In dieser Gemütsverfassung befand sich Rosa, als Dimitrij angegriffen wurde und man entdeckte, daß er Jude war. Nur Vladimir hatte ihr Geheimnis geahnt.
Hatte sie kurzzeitig in ihrer Jugend an Vladimir als an ihren Liebhaber gedacht? Eine unmögliche Liebe, eine Liebe, die nicht sein durfte. Doch auch eine platonische Liebe wie die ihre hatte ihre Freuden und Schmerzen. Was hieß es denn für eine Frau, zu wissen, daß nicht ihr Mann, sondern dessen Bruder sie wirklich verstand? Sie genoß seine Gesellschaft; da war sie glücklich. Und doch fürchtete sie ihn, denn er brachte sie dazu, wieder zu spielen. Er zeigte ihr nur allzu deutlich, was sie vor sich zu verbergen suchte – den quälenden Abgrund, der sie von ihrem Mann trennte. Und so floh sie von Vladimir zurück in ihr Gefängnis.
Vladimir hatte versprochen, Dimitrij nach Amerika zu bringen. Das allein war jetzt wichtig für sie.
Sie ging an einem Zeitungsstand vorüber. Neben der Tür waren auf einer kleinen Tafel die Schlagzeilen zu lesen. Der arme Stolypin, der loyale Ministerpräsident, war kurz zuvor in Kiev erschossen worden. Nun hatte sich herausgestellt, daß sein Mörder ein Doppelagent war – ein Polizeispitzel, der diese Greueltat nur begangen hatte, da die revolutionäre Gruppe, in die er sich eingeschleust hatte, allmählich Verdacht gegen ihn schöpfte. »Nur in unserem armen Rußland müssen wir mit solchem Wahnsinn leben«, murmelte sie.
Sie befand sich nun in einer Straße mit Trambahnschienen. Schon vor der Jahrhundertwende hatte es in Moskau Bahnen gegeben, solide, zweistöckige Fahrzeuge, die von zwei Pferden gezogen wurden. Sie gingen einen angenehm leichten Trab. Im letzten Jahr aber waren sie durch elektrische Trambahnen ersetzt worden, die einstöckig waren und sich viel rascher fortbewegten. Die Schienen trafen sich an einer Straßenkreuzung; darauf ging Rosa zu. Peter Suvorins Buch war natürlich die letzten achtzehn Monate ihre Stütze gewesen. Wie viele Nächte hatte sie bis in die frühen Morgenstunden aufopfernd für ihren Mann geschrieben, während er tief geschlafen hatte! Das war die Art von Aufopferung, die sie von seinem Lager fernhielt. Das Buch war letzte Woche fertig geworden und ging nun in Druck. Es würde ihn wahrscheinlich berühmt machen, und sie war damit ihres Schutzes beraubt worden. Es war nicht schwierig. Die elektrische Straßenbahn fuhr rasch auf sie zu durch die Nacht, gerade, als sie die Kreuzung erreichte. Rosa hatte die Handschuhe ausgezogen, als wollte sie in ihrer Tasche nach etwas suchen; nun zog sie sie gleichgültig wieder an. Die Trambahn kam näher.
Alle hatten es gesehen. Es gab keinen Zweifel an dem, was geschehen war. Die Frau, die am Randstein stand, hatte in ihrer Tasche gesucht, hatte aufgeblickt und war ausgeglitten. Sie stieß einen kurzen Schrei aus, als sie mit dem einen Fuß auf dem feuchten Stein vergeblich nach Halt suchte. Sie fiel unmittelbar vor die Räder der Straßenbahn. Es gab keinen Zweifel daran, daß es sich bei der unglückseligen Geschichte, auch wenn Rosa unter Stimmungen gelitten hatte, um einen Unfall handelte.
Zwei Monate danach vollendete Dimitrij Suvorin die drei »Etüden« zu ihrem Andenken in Anlehnung an Skrjabin; und man war sich darüber einig, daß sie seine ersten ernsthaften und reifen Kompositionen darstellten.
1913
Als das Jahr seinem Ende
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