Russka
wollen. Wir wissen weder wann noch wie. Aber wir wissen, daß der Prozeß nicht mehr aufzuhalten ist.«
Wenn Dimitrij seinem Vater zuhörte, hatte er das wundervolle Gefühl, als stehe alles im Universum wissenschaftlich miteinander in Zusammenhang. Nichts konnte anscheinend den Professor von seinem Weg abbringen. Er lehrte; er schrieb; seine Schüler kamen zu ihm. Sein Leben war ebenso ruhig und geordnet wie seine Gedanken.
Im Sommer 1910 schien es Dimitrij deutlich, daß seine Mutter wahnsinnig wurde.
Nach seinem Unfall hatte es einige Monate lang so ausgesehen, als habe sich Rosas Ängstlichkeit etwas gemildert. Es war, als habe sie etwas Schlimmeres befürchtet und sei nun erleichtert, daß das Schicksal endlich zugeschlagen hatte und alles vorüber war. Doch dann, als Peter gerade anfing sein Buch zu schreiben, ging ein Änderung vor sich. Warum bestand sie darauf, sein Buch selbst zu tippen? Einige Male schlug er ihr vor, die Arbeit jemand anderem zu überlassen, aber immer verharrte sie in starrer Entschlossenheit; und da gab er nach.
Jeden Abend, nachdem das Essen beendet war, stellte sie ihre Schreibmaschine in dem kleinen Eßzimmer auf und machte sich an die Arbeit. Sie weigerte sich, währen des Tages zu schreiben, und behauptete, sie habe keine Zeit. Wieder und wieder schrieb sie die Texte ab, bis sie fand, daß alles fehlerlos sei. Manchmal saß sie nur eine Stunde an der Arbeit, meist jedoch wurde es spätnachts, und sie erschien am nächsten Morgen mit dunklen Ringen um die Augen. Schlimmer noch als dieses zwanghafte Verhalten, das Rosa auslaugte, war das Wiederaufleben ihrer früheren Ängstlichkeit, die überraschend heftig zurückkehrte.
Sie nahm seltsame Formen an. Wenn es draußen nur ein bißchen kühl war, mußte Peter seinen Mantel und eine Pelzmütze tragen; wenn die Sonne warm schien, hatte sie Angst, er könnte sich einen Sonnenstich zuziehen; wenn die Straße vereist war, wußte sie von vornherein, daß er ausgerutscht war und sich verletzt hatte. Diese ständige Besorgnis dehnte sich auch auf Dimitrij aus. Rosa wurde erst wieder ruhiger, wenn ihr Mann und ihr Sohn abends sicher zu Hause waren.
Dann begann sie ihnen zu folgen.
Anfänglich erfand sie absolut glaubhafte Ausreden – den Besuch bei einer Freundin, Einkäufe –, um Peter zur Universität oder Dimitrij zur Schule zu begleiten. Doch schon nach kurzer Zeit gingen ihr die Ausflüchte aus, und es war offensichtlich, daß sie die beiden lediglich unter schützender Aufsicht haben wollte. Peter entschloß sich, ihr ihren Willen zu lassen, doch Dimitrij ertrug es nicht und bat sie, ihn in Frieden zu lassen. Unangenehmer noch war ihr Argwohn, völlig unbegründet zwar, aber sie litt darunter. Es kam ihr, zum Beispiel, plötzlich in den Sinn, daß ein befreundeter Nachbar ein Polizeispitzel sei, der die ganze Familie beobachtete. Sie warnte Dimitrij nachdrücklich vor einer geheimen Verschwörung, die mit der Schwarzen Hundertschaft zu tun hatte und alle Juden und Sozialisten beseitigen wollte.
Eines Abends, als Rosa und Dimitrij allein waren, bat sie ihn, sich an den Küchentisch zu setzen. Dann sagte sie eindringlich: »Ich möchte, daß du mir etwas versprichst, Dimitrij. Wirst du das tun?«
»Wenn ich kann«, antwortete er.
»Versprich mir, daß du Musiker wirst, daß du niemals ein Revolutionär wie dein Vater wirst, sondern immer bei der Musik bleibst.« Dimitrij zuckte die Achseln. Da es seine ganze Hoffnung war, sein Leben der Musik widmen zu können, kam ihm das Versprechen nicht zu schwierig vor. »Dein Wort?«
»Ja. Aber warum?«
Sie blickte ihn betrübt an. »Nur jüdische Musiker werden in Sicherheit sein«, erklärte sie ihm. »Nur Musiker.« Auf dieses offensichtliche Zeichen von Wahnsinn wußte er nichts zu erwidern.
Im Frühjahr des Jahres 1910 versuchte Peter Rosa zu einem Arztbesuch zu überreden, doch sie wollte nichts davon wissen. Er besprach die Angelegenheit mit seinem Bruder Vladimir, der zweimal zu ihnen in die Wohnung kam und ihr vorschlug, sie solle nach Russka gehen, um dort Frieden und Ruhe zu finden. Auch dies lehnte sie ab.
»Ich fahre im Mai nach Deutschland«, berichtete Vladimir. »Ich glaube, es gibt dort einen Arzt, der ihr helfen könnte.« Doch Rosa wollte sich nicht einmal Gedanken darüber machen. Anfang Mai wurde Dimitrij Zeuge einer seltsamen Unterhaltung. Er und Karpenko verbrachten den Abend mit Nadeschda. Wie immer verging die Zeit angenehm, und nach einer langen Diskussion
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