Russka
Familie wurde erwähnt, und fromme Wünsche für sie wurden geäußert. Verschiedene Gäste wurden Rasputin vorgestellt, und für jeden schien er freundliche, bescheidene Worte zu haben. Als ihm Nadeschda vorgestellt wurde, meinte er ihrer Mutter gegenüber, das Mädchen habe ein wunderbares Naturell. Zu Peter Suvorin sagte er respektvoll: »Sie studieren die Wunder des göttlichen Universums.«
»Merkst du etwas Besonderes an ihm?« fragte Dimitrij seinen Freund Karpenko und sah enttäuscht aus. Doch als Frau Suvorin ihn wenige Minuten später herbeiwinkte, entdeckte er, Auge in Auge mit Rasputin, das hervorstechendste Merkmal dieses merkwürdigen Menschen. Zuerst hatte Dimitrij diese Augen für listig gehalten; die Blicke schossen unter der breiten Bauernstirn neugierig, aufmerksam, vielleicht sogar verschlagen hierhin und dorthin. Nun aber, als sie fest auf ihn gerichtet waren, empfand Dimitrij ihre starke Wirkung. Sie brannten – es gab keinen anderen Ausdruck dafür. Alles übrige an dem Mann war vergessen, sobald man die erstaunliche, durchdringende Kraft seiner Augen spürte. Erst als Dimitrij ganz nahe kam, schien sich der hypnotische Blick zu mildern.
»Ein Musiker. Ach ja.« Mehr sagte Rasputin nicht zu ihm. Anscheinend war er nicht besonders an Dimitrij interessiert, obwohl der junge Mann ein seltsam prickelndes Gefühl im Rücken spürte, als er auf seinen Platz zurückging.
Der übrige Nachmittag verlief sehr ruhig, und er wäre in Dimitrijs Erinnerung wohl nichts anderes geblieben als ein belangloses gesellschaftliches Ereignis, wären nicht kurz vor Rasputins Weggang zwei kleine Zwischenfälle geschehen.
Rosa war gleich nach Peter vorgestellt worden, doch Rasputin schien sie gar nicht zu bemerken. Er blickte nicht einmal in ihre Richtung, als er sich plötzlich wie unter einem Zwang erhob, rasch auf sie zuging und mit einer Hand ihren Unterarm ergriff; so stand er fast eine Minute lang, schweigend, wie ein Arzt, der den Puls fühlt. Dann ging er wortlos an seinen Platz zurück, wo er das Gespräch mit Frau Suvorin wiederaufnahm, als wäre nichts geschehen.
Der zweite, noch merkwürdigere Zwischenfall ereignete sich, als Rasputin sich verabschiedete. Karpenko hatte Rasputin eine Weile beobachtet und sich dann entschlossen, ihn nicht näher kennenlernen zu wollen. Als es soweit war, daß Frau Suvorin ihn gerade auffordern wollte, schlich er sich in eine entfernte Ecke des Raumes. Rasputin war schon halbwegs an der Tür, als er plötzlich stehenblieb, sich rasch umwandte und direkt auf Karpenko zuging. Er blieb einige Meter vor dem jungen Mann stehen. Die hypnotischen Augen starrten ihn derart an, daß Karpenko gleichsam in sich zusammensank. Das Ganze dauerte einige Augenblicke. Dann lächelte Rasputin. »Nun ja«, meinte er freundlich, »solche wie Sie habe ich schon in Sibirien und in St. Petersburg getroffen.« Dann wandte er sich an Frau Suvorin: »Was für einen klugen jungen Kosaken haben Sie in Ihrem Haus!«
Was, in aller Welt, meinte er damit? Frau Suvorin schien es zu verstehen; sie begleitete Rasputin zur Tür. Die Wirkung auf Karpenko war allerdings verheerend. Als Rasputin gegangen und Dimitrij zu ihm getreten war, war Karpenko totenblaß und zitterte. Dimitrij legte den Arm um ihn. Karpenko konnte nur flüstern: »Er hat durch mich hindurchgesehen. Er sieht alles. Er ist der Teufel selbst.« Dimitrij blickte den Freund verständnislos an, und Karpenko murmelte mit einem betretenen Blick auf Frau Suvorin: »Du begreifst nichts. Du begreifst gar nichts.«
Die feuchtkühle Luft roch leicht nach Rauch, als Rosa die Straße entlangging. Eine Stunde zuvor war es dunkel geworden. Hier und da glühten Lampen auf. An der Ecke blieb sie stehen und blickte zurück. Das Schlafzimmer, das sie mit Peter teilte, ging als einziges Zimmer der Wohnung auf die Straße hinaus, und aus irgendeinem Grund – sie wußte selbst nicht, warum – hatte sie eine brennende Kerze aufs Fensterbrett gestellt. Sie konnte sie gut sehen, ein kleines tropfendes Licht im dunklen Umriß des Gebäudes, ein seltsamer kleiner Wächter. Eine Botschaft vielleicht der Liebe und der Hoffnung. Sie hatte nichts als eine Nachricht hinterlassen, daß sie Spazierengehen wolle.
Niemand würde es erfahren; das war tatsächlich das Geschenk ihrer Liebe an sie, daß sie es nie erfahren sollten. Nur Vladimir würde es wissen, und der war gerade mit seinem Sohn in Paris und würde erst in einem Monat zurückkommen. Sie hatte ihm nicht
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