Russka
etwas Besonderes. Er glaubte fast, daß er sie liebte. Und nun hatte er statt dessen vor, sie um die Finanzierung ihrer beider Flucht zu bitten. Im Jahre 1913 fühlte Popov sich erschöpft. Es gab keine Hoffnung auf eine Revolution. Lenins Versuch, die sozialistische Linke wiederzuvereinigen, hatte wenig Erfolg gezeitigt. Es waren neue Verhaftungen erfolgt. Selbst Stalin wurde nach Sibirien verbannt. »Wir könnten ins Ausland gehen«, schlug Popov vor. Zu ihrer eigenen Überraschung freundete Frau Suvorin sich mit dem Gedanken an. Er war ein außergewöhnlicher Mann. Sie hatte viel von ihm gelernt. Er hatte sie dazu gebracht, lange und intensiv über ihr Leben nachzudenken, und er hatte sogar ihre politischen Ansichten verändert. »Ich glaube tatsächlich, daß wir eine Demokratie brauchen«, hatte sie schließlich zugegeben. »Ich kann mir sonst nichts denken, was gerecht wäre. Ich persönlich möchte zwar den Zaren behalten, aber wir brauchen eine verfassunggebende Versammlung.« Das war eine geheime Passion für sie geworden. Doch er beunruhigte sie auch. Wenn sie mit ihm über die Revolution sprach, war es mitunter, als habe er sich eine Schutzhülle zugelegt, die alle menschlichen Gefühle ausschloß, die mit der anstehenden Aufgabe in Konflikt geraten konnten. Bei solchen Gelegenheiten dachte sie, daß er töten könne, ohne daß es ihm etwas ausmache. Nun hatte der Revolutionär sich ergeben. Sie wollte ihn in ihre Arme schließen.
Die Tür flog auf, und Nadeschda trat ins Zimmer. Sie zitterte. »Ja«, sagte sie ruhig, »meine Mutter macht sich Gedanken wegen meiner Freunde. Sie hätte es wohl lieber, wenn sie Bolscheviken wären.« Popov schwieg.
In einem Anflug von Zorn sagte Nadeschda: »Du sollst nur wissen, daß ich weiß, wie du meinen armen Papa behandelst.« Und zu Popov gewandt: »Man müßte Sie einsperren. Vielleicht wird es sogar geschehen.«
»Nadeschda, geh in dein Zimmer«, sagte Frau Suvorin rasch, und Popov flüsterte sie zu: »Du gehst jetzt besser.« Auf seinen fragenden Blick erwiderte sie kopfschüttelnd: »Unmöglich.«
1914
Die Prozession wand sich langsam und feierlich durch die staubige Sommerhitze. Sie wurde angeführt von Priestern in juwelenbesetzten Gewändern und mit schweren Mitren. Manche trugen Ikonen, andere riesige Banner. Ein Chor sang. Als sie vorbeikam, hob sich eine Woge aus Händen, die das Kreuzzeichen machten, während Köpfe und Rücken sich tief verneigten – dies war noch immer das Heilige Rußland. Und Rußland befand sich im Krieg. Alexander Bobrov sah das alles mit Tränen der Rührung in den Augen. Welch ein Sommer war das gewesen! Zuerst hatte Dürre geherrscht, dann gab es eine totale Sonnenfinsternis. Jeder Bauer in jedem Dorf wußte deshalb, daß wahrscheinlich eine Katastrophe bevorstand. Aber nun, nachdem sie eingetreten war, schien es, als vollziehe sich hier in den Straßen Moskaus eine wundersame Bekehrung. Plötzlich wurden alle Russen Brüder, vereint in der Verteidigung des Vaterlandes.
Hinter den Ikonen wurde ein großes Bildnis des Zaren getragen. Es war seltsam, daß dieser Mann, der kaum einen Tropfen russischen Blutes in den Adern hatte und seinem Vetter, König Georg V. von England, fast aufs Haar glich, die zentrale Figur in diesem eher orientalischen Gepränge bilden sollte. Sein ernstes, ziemlich gewöhnliches Gesicht mit dem kurzen braunen Bart ließ auf seine Persönlichkeit schließen – ein leicht verwirrter, gutmütiger und unschlüssiger deutscher Prinz, durch sein Schicksal in ein fremdes östliches Reich verschlagen. Aber er war der Zar, Väterchen aller Russen, und während sein Bildnis vorbeigetragen wurde, verneigte sich das Volk.
Alexander verneigte sich ebenfalls. Er trug eine Uniform, und am nächsten Tag würde er in den Kampf ziehen. Wie hatte diese gigantische Mobilisierung begonnen, die die Welt erschüttern sollte? Ereignisse in den Balkanländern hatten den Konflikt entzündet.
Als Österreich 1908, von Deutschland unterstützt, Bosnien und die Herzegovina annektiert hatte, machte es damit seine Expansionsabsichten deutlich, aber es sah so aus, als sei die Bedrohung abzuwenden. Der Sommer des Jahres 1914 machte diese Hoffnung zunichte. Als bosnische Terroristen den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordeten, behauptete Österreich, dies sei die Schuld des benachbarten Serbien gewesen, und bestand auf einer Entschuldigung unter demütigenden Bedingungen. Serbien hatte sich sogleich
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