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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Jugendstilhaus wirkte trübe und verlassen. Er ging die Stufen zum Eingang hinauf und läutete. Nichts rührte sich. Vladimir hielt nur sein Stammpersonal, aber trotzdem war es ungewöhnlich, daß niemand zu Hause sein sollte. Vielleicht sehen sie sich die Prozession an, dachte Dimitrij achselzuckend. Aus einem Impuls heraus drehte er am Griff der schweren Tür, die sich überraschenderweise öffnen ließ. Anscheinend hatte man vergessen, sie abzuschließen. Da es draußen heiß war und Dimitrij nichts Besseres zu tun hatte, trat er ein.
    Die hohe Halle mit der cremefarbenen Treppe lag still da. Wohnzimmer, Eßzimmer und Bibliothek führten alle auf die Halle. Er ging von einem Zimmer ins andere, fand jedoch niemanden. Er war erst einmal im Obergeschoß des Hauses gewesen. Er wußte, daß sich dort ein Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer befanden. Oben an der geschwungenen Treppe angekommen, öffnete er eine Tür nach der anderen, fand ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, nicht jedoch das Arbeitszimmer. Als er schon wieder hinuntergehen wollte, bemerkte er eine weitere Tür, die er öffnete. Es war ein großzügiger Raum mit blauen Wänden. Das Jugendstilfenster stellte in buntem Glas eine fremdartige Traumlandschaft dar, mit Bergen in der Ferne und Bäumen voll rotgoldener Früchte im Vordergrund. An einer Wand hing ein Gemälde von Gauguin, links gab es einen Schreibtisch, in der Mitte eine Chaiselongue, und im Hintergrund des Raumes befand sich ein großes Bett. Darauf lagen sein Onkel Vladimir und Karpenko. Beide waren nackt. Vladimirs große behaarte Gestalt lag von Dimitrij abgewandt, aber die Situation war eindeutig. Karpenko dagegen hatte den Kopf der Tür zugewandt und sah dem Freund geradewegs in die Augen. Dimitrij starrte einfach nur. Da lächelte Karpenko ihn merkwürdig schuldbewußt an, als wollte er sagen: Nun weißt du's, nicht wahr? Dimitrij zog sich lautlos zurück, ging in die stille Halle hinunter und verließ das Haus.
    Auf dem Nachhauseweg war er sich über seine Empfindungen nicht im klaren, der Schock und das Entsetzen waren zu groß. Als er den Hof mit dem staubbedeckten Maulbeerbaum betrat, stellte er überraschend fest, daß er für seinen Freund eine neue Art von Fürsorglichkeit empfand. Im Hinblick auf Onkel Vladimir fühlte er sich betrogen, und zugleich dachte er entschlossen, daß Nadeschda das nie erfahren dürfe. Und an diesem traumhaften Tag kam ihm auch zu Bewußtsein, wie vieles in den Menschen verborgen lag, das er nicht begriff.
    Am Spätnachmittag betrat Alexander Bobrov nach Aufbietung all seines Mutes das Haus der Suvorins und erfuhr zu seinem Erstaunen, daß Nadeschda bereit war, ihn zu empfangen. Noch ehe er die sorgfältig überlegte Entschuldigung stammeln konnte, berührte sie mit einem Finger leicht seine Lippen und sagte nichts als: »Ist schon gut.« Dann hängte sie sich bei ihm ein und schlug einen Gang durch die Galerie vor.
    Als Alexander sie ansah, hatte er den Eindruck, sie habe vorher geweint. Überdies lag eine Weichheit in ihrem Verhalten, die er noch nie an ihr bemerkt hatte.
    Als er sich verabschiedete, trat sie auf ihn zu und meinte: »Nun, Alexander, du ziehst in den Krieg. Vergiß nicht, wieder zu mir zurückzukommen, hörst du?« Dann hob sie ihm das Gesicht entgegen und lächelte: »Vielleicht möchtest du mich küssen.« Sie streckte die Arme nach ihm aus.
    1915
    Gerade hatte es geregnet. Der feuchte Boden dampfte im Sonnenschein, während Alexander mit seinen Männern wartete. Vor ihnen breitete sich ein weites polnisches Feld, dahinter befand sich eine Baumreihe. Der Einsatz der Soldaten stand bevor. Alexander Bobrov überprüfte seine Leute, dreiunddreißig an der Zahl; alle bis auf einen waren unerfahrene Rekruten, in jenem Winter eingezogen, mit einer vierwöchigen Grundausbildung. Den einzigen Veteranen, einen siebenundzwanzigjährigen Reservisten, hatte Alexander als Feldwebel eingesetzt.
    Der Graben, in dem sie standen, war nicht sonderlich tief. Als sie ihn noch nicht ganz zwei Meter ausgehoben hatten, erklärte der diensthabende Hauptmann ungeduldig, das genüge; sie seien schließlich hier, um zu kämpfen, nicht, um zu graben. Er war klein und dick, der Hauptmann, ein Offizier der alten Schule, mit einem wilden grauen Backenbart und rotem Gesicht. »Dauert nicht mehr lange«, hatte er eine Stunde zuvor verkündet. »Seid tapfer, Jungs!« Dann war er verschwunden. Alexander blickte über das große Schlammfeld. Würden plötzlich irgendwo

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