Russka
gefügt, Österreich dagegen lehnte ab und traf Gegenmaßnahmen. »Es ist gar keine Frage – Österreich und Deutschland haben vor, alle Balkanstaaten zu beherrschen. Das bedeutet, daß sie die Kontrolle über Konstantinopel und das Schwarze Meer haben«, erklärte Alexander seinem Vater. Abgesehen jedoch von einer derart offensichtlichen strategischen Überlegung gab es nach Alexanders Meinung eine weitere, die mindestens ebenso ins Gewicht fiel. »Die Serben sind Slaven wie wir, Orthodoxe wie wir«, meinte er. »Das Heilige Rußland muß ihnen zu Hilfe kommen.« Und das tat Rußland denn auch.
Hätte sich der Konflikt nicht doch auf diese Region beschränken können? Auf dem Balkan hatte es seit Jahrhunderten, mit Unterbrechungen, Kriege gegeben. Durch die intensiven diplomatischen Versuche des englischen Lord Grey sah es für kurze Zeit so aus, als könne der Konflikt eingegrenzt werden. Doch es sollte nicht sein. Der einmal in Bewegung gesetzte Kriegsmoloch ließ sich nicht mehr aufhalten. Russische Truppen wurden zur Unterstützung nach Serbien geschickt. Deutschland erklärte Rußland den Krieg; dann folgten Frankreich und Großbritannien. Im August begann der allgemeine Kampf der zivilisierten Welt. Gott sei Dank würde es ein kurzer Krieg werden, darüber waren sich alle einig. An ebendiesem Morgen hatte Alexander einen nachdenklichen Brief seines Vaters erhalten, der immer noch Mitglied der Duma in St. Petersburg war.
Das Ganze läuft auf eines hinaus, mein lieber Junge: Deutschland spielt ein gewagtes Spiel, um einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, und zwar einen gegen Frankreich im Westen und gleichzeitig gegen Rußland im Osten. Der großsprecherische Schlieffen-Plan sieht vor, daß es durch Belgien nach Nordfrankreich vorstößt, Paris einkreist und in weniger als drei Monaten an der Westfront klar siegt, bevor Rußland Zeit zur Mobilisierung hat. Dann erst wendet es sich gegen uns. Ich kann Dir weiterhin mitteilen, daß ich durch gut informierte Personen erfahren habe, es gebe sehr genaue Pläne der Deutschen, was sie mit uns vorhaben: Das Reich wird in verschiedene Regionen aufgeteilt – in baltische Provinzen, die Ukraine, und so fort. Uns läßt man nur das ehemalige Moskoviter Reich. Denke Dir nur – unser mächtiges Imperium zerfallen! Doch das wird nicht geschehen, denn Deutschland hat einen groben Fehler gemacht. Rußland kann viel schneller mobilisieren, als der Plan es vorsieht Wenn wir mit unserem großen Potential an Soldaten rasch angreifen, sieht sich Deutschland in ebendiesen Zweifrontenkrieg verwickelt, den es nicht durchstehen kann. Es wird kapitulieren müssen. Nach allgemeiner Überzeugung ist der Krieg nach Weihnachten vorüber.
Alexander hatte sich, ohne zu zögern, freiwillig gemeldet. Als einziger Sohn wäre er sofort freigestellt worden, doch er wollte unbedingt dabeisein. Seinem sozialen Status entsprechend würde er gleich Offizier werden; am folgenden Tag begann seine Ausbildung. Er trug bereits seine Uniform, und darauf war er stolz. Nur ein Gedanke bedrückte ihn: Er mußte sich bald von Nadeschda verabschieden. Aber würde sie überhaupt noch mit ihm sprechen nach dem, was geschehen war?
Er war zwei Tage zuvor ins Haus der Suvorins gegangen, um Nadeschda mitzuteilen, daß er zur Armee gehe. Dort hatte er Karpenko getroffen.
Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen: Während der letzten sechs Monate hatte Nadeschda sich tief in Karpenko verliebt Welch eine Ironie des Schicksals! Er, Alexander, war dreiundzwanzig Jahre alt und beendete gerade sein Studium. Nadeschda war sechzehn und eine junge Frau. In jenem Jahr hatte er sich vorgenommen, den Schritt zu wagen. Nun entschloß er sich statt dessen, sie immer noch als Kind zu betrachten, das der Sache mit Karpenko entwachsen würde. Also hieß es noch warten! Als er ins Zimmer trat, standen die beiden am Fenster. Man sah, daß sie einander sympathisch waren. Da wandte Karpenko sich um und sagte etwas. Was hatte der Kerl eigentlich gesagt? Irgend so etwas wie: »Da kommt ja unser Kriegsheld, Bobrov, der bogatir.« Da hatte Alexander seine Selbstbeherrschung verloren. »Ich wüßte nicht, wie ich als Ukrainer diesen Krieg sehen würde«, meinte er kühl.
Es stimmte, und das wußten sie beide, daß Ukrainer in Österreich lebten, ebenso eine kleine Gruppe ukrainischer Nationalisten, die im kommenden Krieg eine Möglichkeit sahen, die Ukraine von der russischen Herrschaft zu befreien. Es war die Rede davon, daß
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