Russka
einige davon interniert werden sollten. Es traf jedoch auch zu, daß Hunderttausende von Ukrainern in der russischen Armee kämpfen sollten.
Karpenko wurde sehr blaß. »Ukrainer sind keine Verräter. Wir kämpfen für den Zaren«, sagte er leise.
Bitter wandte Alexander ein: »Tatsächlich? Wird man dich in Uniform sehen, oder hast du vielleicht keine Lust, der Gefahr ins Auge zu blicken?«
Eine schreckliche Stille trat ein. Die Frage war unfair, denn die meisten Studenten waren freigestellt, und die meisten jungen Männer mit einflußreichen Freunden nutzten diese Chance unverzüglich, um Freistellungen zu erwirken. Diesmal lief Karpenko rot an. »Ich finde, es ist furchtbar, so etwas zu sagen.« Nadeschdas Augen sprühten Funken. »Und ich meine, Alexander Nikolajevitsch, du solltest uns jetzt verlassen.«
Was hatte er nur getan! Welche Torheit hatte ihn dazu veranlaßt? Konnte er es heute wagen, noch einmal einen Besuch zu machen? Er mußte es. »Ich kann nicht gehen und die Dinge auf sich beruhen lassen«, murmelte er. So war er reichlich nervös auf dem Weg zu dem großen Haus der Suvorins.
Alexander wäre, hätte er davon gewußt, überrascht gewesen von der kurzen Unterredung, die eine Stunde zuvor zwischen Michail und Nadeschda stattgefunden hatte. Frau Suvorin hatte den jungen Mann veranlaßt, dieses Gespräch zu fuhren. Sie hatte ihn an diesem Morgen rufen lassen. Ruhig und eher beiläufig ging sie die Sache an. »Dieses Mädchen ist in Sie verliebt, und das geht schon zu weit«, meinte sie kurz und bündig. »Sie und ich, wir wissen beide, was Sie zu tun haben.« Karpenko stand leicht verlegen neben einem großen, hochlehnigen Sessel.
Nadeschda stand in einiger Entfernung von ihm. »Ich glaube, du weißt, daß ich dich sehr gern habe«, begann er. Er setzte ihr liebevoll auseinander, wieviel ihm ihre Freundschaft bedeutete, und lenkte allmählich auf seinen Auftrag hin. »Falls ich dich unbeabsichtigt getäuscht haben sollte – es gibt da etwas, das du wissen müßtest.« Er hielt inne. »Unsere Freundschaft kann niemals mehr sein als eben eine Freundschaft.«
Sie wurde blaß, blickte ihn jedoch weiterhin unverwandt an. Dann runzelte sie die Stirn. »Du meinst, es gibt jemand anderen?«
»Ja.«
»Das wußte ich nicht. Schon länger?«
»Ja.«
Sie krauste wieder die Stirn. »Aber du bist nicht verheiratet, nicht wahr?«
»Nein. Aber mein Herz ist anderweitig vergeben«, sagte er und wurde verlegen wegen der geschraubten Ausdrucksweise. »Danke, daß du es mir gesagt hast«, meinte sie nur. »Du solltest jetzt wohl lieber gehen.«
Für Dimitrij Suvorin hatte dieser warme Augustnachmittag etwas von einem Traum. Vielleicht war es der Klang der Glocken oder der Gesang der Priester; vielleicht auch diese mittelalterlich anmutenden russischen Volksmassen, die sich außerhalb jeglicher Zeit durch die Straßen des zwanzigsten Jahrhunderts bewegten. Möglicherweise waren es auch die Menschen in den Häusern – Tausende von bleichen Gesichtern, an jedem Fenster, auf jedem Balkon, die sich seltsam und wie verloren ausnahmen in dieser mächtigen Stadt, die zum Bühnenbild geworden war. Im Laufe des Nachmittags kam er zufällig in die Nähe des Hauses der Suvorins, als die Prozession soeben vorüberzog. Er wußte, daß Karpenko an diesem Tag dort einen Besuch machen wollte, und so trat er ein in der Annahme, seinen Freund noch vorzufinden. In dem oberen kleinen Salon traf er auf Nadeschda. Sie stand am Fenster und starrte auf die Straße, wo die Priester mit den Ikonen die lange Prozession anführten. »Merkwürdig«, sagte sie, »der letzte Krieg, den wir gegen die Japaner führten, kam mir so unwirklich vor. Vielleicht weil ich noch sehr jung war.«
»Das war auch sehr weit weg.«
»Waren die Menschen damals vor dem Krieg auch so patriotisch?«
»Ich glaube nicht.«
»Heiliges Rußland. Es ist schwer vorstellbar, daß Menschen, die man kennt, sterben müssen«, fuhr sie fort. Dimitrij nickte. Mit seinem steifen Bein würde er niemals die Musterung für den Militärdienst bestehen. »Hast du übrigens Karpenko gesehen?« fragte er. »Ja, er ist gegangen.«
»Hast du eine Ahnung, wohin?«
»Nein.« Sie schwieg kurze Zeit, dann sagte sie: »Ich bin ziemlich müde, Dimitrij. Komm bald wieder.«
Draußen überkam ihn plötzlich die Laune nachzusehen, ob Karpenko ins neue Haus seines Onkels Vladimir gegangen sei. Auf dem Weg dorthin fand Dimitrij die Nebenstraßen fast menschenleer. Auch das
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