Russka
hatten, für einen längeren reicht sie nicht aus. Unsere Fabriken produzieren grundsätzlich nicht genug – und angesichts der großen Materialverluste sind sie hoffnungslos im Hintertreffen.«
Es begann ganz plötzlich, und es war anders, als Alexander es erwartet hatte. Da waren keine deutschen Stahlhelme, kein Artilleriebataillon und keine blitzenden Schwerter, da rückten keine geschlossenen Reihen bewaffneter Männer an. Nichts als ein fernes dumpfes Grollen. Und dann die Einschläge. Zuerst fielen die deutschen Granaten in die hinter ihnen liegenden Wälder, dann knallten mehrere in das Feld davor, jagten kleine Schlammfontänen hoch. Der Feind kannte ihre Position offenbar genau. Und während Alexanders Männer erschrocken und verwirrt in dem unzureichenden Schützengraben kauerten, nahm der Geschützdonner seinen Fortgang. Im Frühjahr und Sommer 1915 erlebte die russische Armee das ganze Ausmaß des deutschen Bombardements. Zwei Stunden nach dem Angriff kam der Hauptmann vorüber; sein bärtiges, schmutzbedecktes Gesicht erschien über dem Graben. Es hatte nur einen direkten Einschlag gegeben. »Los, Bobrov, kommt raus«, schrie der Hauptmann. »Wir gehen zurück.« Sie kletterten aus dem Graben und folgten ihm durch den Wald, wo keine Granaten einschlugen. Nach einer Weile erreichten sie den Befehlsstand, der dem Erdboden gleich gemacht worden war.
»Diese verdammten Deutschen! Sie verstehen sich aufs Schießen, das muß man ihnen lassen«, meinte der Hauptmann mit schiefem Lächeln. Er ist gar kein so übler Bursche, dachte Alexander, nur ein bißchen rückständig. Er schaute nach hinten, um sicherzugehen, daß alle seine Leute da waren. Da pfiff eine Granate heran, und noch eine. Dann gab es einen entsetzlichen Knall, und gleißende Helligkeit blendete die Augen.
Er tauchte wie aus einem Nebel auf, und vernahm von ferne die Töne eines Klaviers. Vorsichtig blickte er sich um und wußte sofort, wo er sich befand: Er konnte den vertrauten Baum vor dem Fenster sehen. Dann schloß er die Augen wieder.
Er fühlte, wie Nadeschda sich über ihn beugte. Ihre Stimme klang aufgeregt: »Dimitrij, Dimitrij! Er ist zu sich gekommen.« Die Musik verstummte.
Als Alexander, noch kaum bei Bewußtsein, im Juli nach Moskau zurückgebracht worden war und sein Vater überlegte, was für ihn zu tun sei, hatte Vladimir alles in die Hand genommen. Alexander lag drei Wochen im Delirium, wurde von einem Arzt überwacht und von einer Krankenschwester gepflegt.
Nach und nach erfuhr er, was geschehen war. Die Granate, deren Detonation ihn fast getötet hätte, war Teil eines schweren Bombardements, das die russische Armee in Polen um fast dreihundert Meilen zurückwarf.
»Es ist eine Katastrophe«, berichtete Nadeschda am dritten Tag, als Alexander sich kräftig genug fühlte, um zu sprechen. »Der größte Teil Litauens ist verloren. Sie stoßen über Lettland vor, und unsere Leute sind weiterhin auf dem Rückzug. Der alte General Suchomlinov wurde entlassen. Alle sagen, die Regierung sei unfähig. Es heißt, wir können nur auf die Hilfe des heiligen Nikolaus hoffen.« Die wirklich aufregenden Nachrichten brachte jedoch sein Vater. Der Zar hatte die Duma Anfang des Jahres aufgelöst und per Dekret regiert. Doch die Rückschläge im Krieg waren so groß, daß er gezwungen war, die Duma wieder zur Sitzung einzuberufen, aus diesem Grund befand Nikolaj Bobrov sich in der Hauptstadt. Die antideutsche Einstellung war seit Kriegsbeginn derart gewachsen, daß die Regierung den Namen der Hauptstadt St. Petersburg, der zu deutsch klang, in Petrograd abänderte.
Nikolajs Briefe waren voll von Informationen. Er beschrieb seinem Sohn den Charakter der wichtigen Männer im Parlament: Rodsjanko, dem ebenso wohlbeleibten wie weisen Duma-Präsidenten; von Kerenskij, dem liberalen Sozialistenführer – »ein guter Redner, doch ohne wirkliches politisches Konzept, außer der Vernichtung des Zaren« –, und von anderen mehr. Rasputin, der Freund der Kaiserin, schrieb der Vater, mache derartige Schwierigkeiten wegen seines ausschweifenden Lebenswandels, daß er zu seiner Familie in Sibirien zurückgeschickt worden sei. Zu Alexanders Erstaunen gab sein Vater sich insgesamt optimistisch.
Die derzeitige Krise ist unsere letzte und die beste Gelegenheit zur Regierungsumbildung. Wir zwingen den Zaren zu einem gewissen Maß an Demokratie und retten Rußland dadurch. Aus der Niederlage kommt der Sieg, mein lieber Junge.
Alexander blieb noch
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