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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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längere Zeit sehr geschwächt. Seine schwere Verwundung bereitete ihm starke Schmerzen. »Sie sind jung, Sie werden wieder ganz gesund«, meinte der Arzt. Sie richteten ihm ein Zimmer im Erdgeschoß ein, von wo aus er mit dem Rollstuhl auf die Veranda fahren konnte.
    Im Haus herrschte rege Betriebsamkeit. Arina, die Haushälterin, war außerordentlich tüchtig. Trotz des Krieges blieben die Werkstätten und das kleine Museum geöffnet. Arinas Sohn Ivan, jetzt sechzehn Jahre alt, ging bei dem dortigen Holzschnitzer in die Lehre.
    Während Peter Suvorin und Karpenko in Moskau blieben, hatte sich die übrige Familie aufs Land begeben. Frau Suvorin betätigte sich in einer neuen zemtsvo -Organisation und half besonders bei der Unterbringung des Flüchtlingsstromes von der Front. Vladimir hatte die Tuchfirma von Russka in eine kleine Waffenfabrik zur Herstellung von Patronen und Granaten umgewandelt. Dimitrij seinerseits übte und komponierte täglich. Ein Dutzend Suiten für Klavier und zwei Sätze seiner ersten Symphonie waren schon zu Papier gebracht. Die Partituren wurden in einem Schrank verschlossen aufbewahrt.
    Vladimir hatte in Russka ein kleines Pflegeheim eingerichtet, wo verwundete Soldaten sich erholen konnten, und Nadeschda kümmerte sich täglich um sie. Manchmal wurden diejenigen, die sich schon besser fühlten, zum Tee ins Wohnhaus geholt. So vergingen die Monate Juli und August. Im August gestattete der Arzt Alexander zweimal, sich mit dem Wagen zum Kloster fahren zu lassen. »Der Ort ist großartig«, meinte er zu Vladimir, »ich habe noch nie ein so blühendes Dorf gesehen.«
    Während im Sommer 1915 die großen Städte durch den Krieg litten, begann auf dem Land eine Periode des Reichtums. »Wie es in Kriegszeiten oft der Fall ist, bezahlt die Regierung, indem sie Geld druckt; die Folge ist eine Inflation. Was jeder braucht – und nur die Bauern haben es –, ist Getreide. Die Preise dafür sind hoch, und wir haben gerade eine Rekordernte gehabt. So haben die Bauern übermäßig viel eingenommen.« Vladimir machte eine Pause und fuhr dann schmunzelnd fort: »Stell dir vor, Boris Romanov, dieser Schuft, hat sich sogar ein Grammophon gekauft.« Ende August löste der Zar die Duma auf. Gleichzeitig beschloß er, die Position des Oberkommandierenden des russischen Heeres persönlich einzunehmen. Er wollte sich selbst an die Front begeben.
    In der ersten Septemberwoche erhielt Alexander einen langen Brief seines Vaters. Er klang nun nicht mehr optimistisch, und der Schluß war voll böser Vorahnungen.
    Jeder versuchte, den Zaren umzustimmen, aber er ist ein uneinsichtiger Bursche, der es für seine Pflicht hält, Autokrat zu sei. Also ist die Demokratie unter der Zarenherrschaft gestorben, dessen bin ich sicher. Die Versuche des Zaren, die Armee wieder zu stärken, sind zum Scheitern verurteilt. Ich sehe in der Zukunft nur Chaos. Rasputin ist wieder erschienen. Gott helfe uns!
    1917
    Am 2. März dieses Jahres endete die Herrschaft des Zaren. Rußland war frei!
    Nikolaj Bobrov stand am Fenster und blickte gespannt hinaus. Ein Stirnhöhlenkatarrh hatte ihn gezwungen, an diesem Tag zu Hause zu bleiben. An seiner Stelle war sein Sohn Alexander zum Tauridapalast gegangen, wo die Duma tagte, um das Neueste zu erfahren. Er mußte jeden Augenblick zurück sein.
    Sicher hatte der Zar bereits seine Abdankung unterzeichnet. »Gott weiß«, murmelte Nikolaj, »daß der Zar nicht so weitermachen kann.« Noch hatten Bobrov und seine Freunde die Macht nicht übernommen; schließlich hatte die Duma den Zaren abgesetzt.
    Die Bedenken, die Nikolaj im schicksalhaften Sommer 1915 geäußert hatte, hatten sich bewahrheitet. Der Zar war häufig an der Front gewesen. Die Armee war wirklich nicht ganz erfolglos. Die große Brusilov-Offensive von 1916, die während eines britischen Großangriffs an der Somme gestartet wurde, konnte den Feind zwar nicht schlagen, brachte jedoch einige Vorteile an der Westfront. Vom Kaukasus her waren russische Truppen in die Türkei vorgedrungen. Im Süden allerdings stießen Deutschland und Österreich durch Rumänien bis an die Westküste des Schwarzen Meeres vor, und die Engländer wurden gezwungen, sich aus Gallipoli zurückzuziehen. Dadurch wurde Rußland der Zugang zum Schwarzen Meer weiterhin blockiert, so daß es kein Getreide exportieren konnte. Der Krieg an der russischen wie an der Westfront war ein grimmiges Auf-der-Stelle-Treten. In Rußland selbst geriet die Lage zu einem Alptraum.

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