Russka
Nikolaj fühlte tatsächlich so etwas wie Hoffnung, während er wartend auf die Straße blickte. Und da entdeckte er Alexander. Der Junge hatte es eilig. Er hielt ein Stück Papier in der Hand, wirkte aufgeregt. Sicher hatte er gute Nachrichten. Mit glücklichem Lächeln ging Nikolaj seinem Sohn entgegen. »Die Abdankung ist also durchgekommen?« erkundigte er sich.
»Nein. Der Zar kann sich nicht zur Unterschrift durchringen. Aber er muß! Er hat keine andere Wahl. Auch die Armeeführer drängen ihn dazu.«
»Was hast du denn da?« Nikolaj deutete auf das Papier. Alexander reichte es ihm wortlos, und Nikolaj las. Es war nicht lang, gerichtet an die Garnison in Petrograd, und es enthielt sieben knappe Klauseln. Jede Kompanie wurde angewiesen, je ein Komitee zu gründen, das den Offizieren die Kontrolle über Waffen und Ausrüstung abnehmen sollte. Offiziere sollten nicht länger mit Ehrentiteln angesprochen oder außerhalb des Dienstes gegrüßt werden. Die Komitees sollten außerdem Vertreter in den Petrograder Sowjet wählen, der erklärte, daß nur er, und nicht die Provisorische Regierung, die höchste Autorität in allen militärischen Angelegenheiten darstelle. Das Papier war unterschrieben vom Komitee des Petrograder Sowjet. Darüber stand, einfach und ohne nähere Erklärung: »Befehl Nr. 1«.
Nikolaj starrte ungläubig darauf. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Das ist absurd! Der Petrograder Sowjet ist nur ein inoffizieller Arbeiterrat. Er wurde von niemandem gewählt und hat keinerlei Amtsgewalt. Niemand wird ihm auch nur die geringste Beachtung schenken.«
»Aber sie tun es bereits. Ich bin in einigen Baracken gewesen. Alle wollen mitmachen. Manche haben mich ausgelacht, weil ich eine Offiziersuniform trug.«
»Aber die regulären Truppen, unsere Frontsoldaten…«
»Der Befehl ist schon unterwegs zu ihnen. Ich sage dir, die meisten Truppen werden ihn befolgen.«
Nikolaj schwieg, wie vom Donner gerührt. »Wer trägt jetzt die Verantwortung?« rief er. Alexander zuckte die Achseln. »Gott weiß es!« Es war ein wunderbarer Julitag. Boris Romanov brummte zufrieden vor sich hin, als er von der schattigen Veranda in den Salon ging. Er liebte das Haus mit seinen grünen Wänden, den kleinen weißen Vorbau und das kühle Innere. Er kam seit Wochen jeden Nachmittag herauf und saß auf der Veranda. Früher hatte es den Bobrovs gehört, dann Vladimir Suvorin, und nun gehörte es ihm. Bei diesem Gedanken lächelte er. Die Revolution – seine Revolution – hatte endlich stattgefunden.
Nach Russka, wie in andere Provinzorte, war die Nachricht von der Abdankung des Zaren und von der neuen Provisorischen Regierung mit Verzögerung gekommen. Boris hatte die sichere Bestätigung erst zehn Tage später erhalten.
Die Provisorische Regierung hatte eine gesetzgebende Versammlung zugesagt. Es gab nun völlige Freiheit der Rede und der Zusammenkünfte. Das war jedenfalls kein Schaden. Für Boris bedeutete der Sturz des Zaren aber vor allem eins: »Jetzt bekommen wir das Land!«
Jedermann wußte Bescheid. Die Provisorische Regierung diskutierte das Verfahren. Das ganze Frühjahr über desertierten Soldaten von der Front in ihre Heimatorte, um die Landverteilung nicht zu versäumen. Zwei von diesen waren im Ort aufgetaucht. Aber nichts geschah. Die Provisorische Regierung ging, wie in allen Angelegenheiten, langsam, gesetzestreu und zögernd vor. Ende April führte Boris die Dorfbewohner auf den Besitz. Niemand hielt sie auf. Als er das Haus betrat, begehrte einzig Arina auf. »Welches Recht habt ihr dazu?«
»Das Recht des Volkes.« Als sie versuchte, ihm den Weg zu verstellen, schob er sie nur lachend beiseite. »Wir sind die Revolution«, erklärte er.
Theoretisch gehörte der Besitz immer noch Vladimir Suvorin, ebenso wie die Fabriken in Russka. Doch Vladimir hielt sich zur Zeit in Moskau auf. Arina lebte weiterhin in diesem Haus, ebenso wie ihr Sohn Ivan, der sich vorläufig noch mit der Holzschnitzerei beschäftigte. In der Zwischenzeit fällten die Dorfbewohner Suvorins Bäume und ließen ihr Vieh am Abhang vor dem Haus weiden. Die gesetzliche Regelung war nur noch eine Frage der Zeit. In Boris Romanovs Augen hatte damit die Revolution ihr Ziel erreicht. Für andere stand allerdings mehr dahinter. In ebendiesem Monat wurde versucht, die Provisorische Regierung zu übernehmen. Es gab einen bewaffneten Aufstand seitens der Bolscheviken. Boris wußte Bescheid über sie. Das waren Burschen wie
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