Russka
Die Kaiserin hielt nun die Zügel der Regierung in der Hand. Sie hatte wohl die Idee, eine zweite Katharina die Große zu sein – zumindest ließ sie dies einen verblüfften Beamten wissen. Und neben der Kaiserin stand – Rasputin.
Es kam Bobrov manchmal vor, als würde jeder, der nur einen Funken Verstand besaß, entlassen. Nur blinder Gehorsam dem Zaren gegenüber wurde belohnt. Die endlose Liste von Berufungen und Entlassungen – über vierzig neue Provinzgouverneure innerhalb eines Jahres! – veranlaßten einen Witzbold in der Duma zu der Bemerkung, die Verwaltung leide unter epileptischen Anfällen. Jedes Vertrauen in die Regierung war geschwunden. Häßliche Gerüchte über die Kaiserin und Rasputin waren bis zu den Fronttruppen vorgedrungen. Es hieß sogar, sie seien insgeheim mit den Deutschen im Bunde. Im Dezember 1916 töteten zwei adlige Patrioten Rasputin, doch dieser Mord konnte den Lauf der Geschichte nicht mehr ändern.
Jede Partei der Duma, selbst die Konservativen, hatte sich gegen den Zaren gewandt. Wenn die Armee auch ihre Stellungen an der Front hielt, gab es doch eine Million Desertierte. In der Hauptstadt herrschte Mangel an Lebensmitteln und Heizmaterial. So konnte es nicht weitergehen. Seit Wochen war die gesamte Duma in Aufruhr. Die dem Zaren Nahestehenden befanden sich in depressiver Verfassung.
Als nach einem harten Winter im Februar 1917 ein zeitiges Frühjahr einsetzte, begaben sich in Petrograd alle auf die Straßen. Das Volk hatte genug. Es gab spontane Demonstrationen; nicht nur Streiks, auch massive Straßenschlachten fanden statt. Polizei und Kosaken befanden sich hoffnungslos in der Minderzahl. Und da begingen die Behörden einen schweren Fehler: Sie holten die Garnisonen zu Hilfe. Die meisten von diesen waren Rekruten, die aus ihren Dörfern geholt und in Baracken gepfercht worden waren. Sie meuterten und schlossen sich den Protestierenden an. Am 28. Februar war es vorüber. Der Zar verfügte die Auflösung der Duma bis zum April. »Doch wir weigerten uns«, berichtete Bobrov mit leisem Lächeln. »Wir weigerten uns zu gehen, und plötzlich wurde uns klar, daß wir die Regierung sind.« Die Deputierten gaben die Erklärung ab. Der Pöbel auf der Straße war anscheinend einverstanden. Was sonst gab es denn außer der Duma? Am folgenden Tag verlangte die Duma die Abdankung des Zaren, und da stellte der russische Monarch fest, daß er auf der ganzen Welt keinen Freund mehr hatte.
Alexander konnte sich inzwischen wieder aus eigener Kraft fortbewegen; er war noch immer Offizier, jedoch für den aktiven Dienst untauglich geschrieben und hatte die beiden letzten Wochen mit seinem Vater in der Hauptstadt verbracht. Obwohl noch immer Monarchist, fand er sich mit den liberalen Ansichten seines Vaters ab. Selbst er war betroffen vom Verhalten der Regierung während der vergangenen Monate.
Wie merkwürdig, dachte Nikolaj. Da bin ich nun, ein Witwer von zweiundsechzig Jahren, der seinen Besitz verloren hat. Mein Land ist in einen schrecklichen Krieg verwickelt, dessen Ende nicht abzusehen ist. Der Monarch ist gestürzt, und doch fühle ich mich heute so, als beginne mein Leben von neuem. Er schüttelte lächelnd den Kopf.
Er hielt den Zaren nicht für ein Ungeheuer, sondern nur für den falschen Mann in der falschen Position. Und er tat ihm eigentlich leid. Nun, nachdem Nikolaus II. gegangen war, merkte Nikolaj, daß er erleichtert war: Endlich konnte die Demokratie in Rußland beginnen.
Die Duma leistete nach seiner Ansicht gute Arbeit. Schließlich stellte sie als einzige Institution ein demokratisches Element in Rußland dar. Sie hatte bereits eine Reihe von Leuten als Provisorische Regierung bestimmt, und fast alle Parteien hatten ihre Unterstützung zugesagt. Nikolaj hatte erfahren, daß mehrere Arbeiterführer und Menscheviken in Petrograd eine Art Arbeiterrat, den sogenannten Sowjet, gegründet hatten. Er kannte zwei der Führer – keine schlechten Kerle. Sie konnten auf jeden Fall dazu beitragen, die Ordnung in den Fabriken wiederherzustellen. Das Programm der Provisorischen Regierung stand bereits fest: Der Krieg wurde fortgesetzt. Alle, außer den Bolscheviken, waren damit einverstanden, und die Bolscheviken hatten um diese Zeit kein großes Gewicht. Dann sollten möglichst rasch Wahlen für eine neue gesetzgebende Versammlung als Ersatz für die Duma abgehalten werden. Damit wäre eine gut funktionierende Demokratie geschaffen. Die linken wie die Rechten stimmten dem zu.
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