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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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solchen Zeiten ist er gefährlich.«
    Wußte ihr Vater über Popov und ihre Mutter Bescheid? Sie vermutete es, hatte jedoch nie danach gefragt. Wie konnte es dieser Mensch nur wagen, herzukommen und ihren Vater in seiner Armut zu beobachten? Es war also verständlich, daß sie davon träumte, den Eindringling endlich loszuwerden. Und daher freute sie sich auf die Abreise. Vladimirs Fluchtplan war einfach. Er hatte festgestellt, daß auf dem Bemskij-Bahnhof zu bestimmten Zeiten das reine Chaos herrschte. Von dieser Station fuhren die Züge an die ukrainische Grenze ab. Noch war es nicht allzu schwierig, gefälschte Papiere zu bekommen. Wichtig war, daß Vladimir unerkannt blieb. Der Plan wurde geheimgehalten. Als das Datum feststand, durften es nicht einmal Dimitrij oder Peter erfahren. Am Nachmittag vor ihrer Abreise kam Popov wieder einmal vorbei. Er machte seine übliche Inspektionsrunde, sah sich auch gründlich in der Wohnung um, wo er Nadeschda allein vorfand. Sicher wäre er schnell wieder gegangen, hätte sie nicht diese Bemerkung gemacht: »Willst du wieder wie üblich glotzen? Niemand hat etwas gestohlen, außer natürlich, du hättest gestohlen.«
    Er blickte sie erstaunt an. »Vielleicht solltest du zu einem Volkskommissar etwas freundlicher sein. Aber ich weiß ja, du magst mich nicht.«
    Sie zuckte die Achseln, und da sie wußte, sie würde abreisen, ließ sie unvorsichtigerweise ihren Gefühlen freien Lauf. »Sicher bist du ein Dieb. Ich kann mir auch vorstellen, daß du ein Mörder wärst. Und du hast versucht, meinem Vater meine Mutter wegzunehmen. Ich kann nicht anders – ich muß dich verachten.« Popov schwieg längere Zeit und dachte nach. Doch warum sollte dieses unverschämte Mädchen nicht einfach die Wahrheit erfahren? Also erzählte er ihr von Vladimir. Dann ging er. Nadeschda blieb blaß und wie gelähmt auf ihrem Stuhl sitzen. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie hatte natürlich von solchen Dingen schon gehört. Aber ihr Vater – dieser wunderbare Mann, den sie angebetet und zu dem sie ihr Leben lang aufgesehen hatte! Sie war so erschüttert, daß sie nicht einmal weinen konnte. Sie redete sich ein, daß es nicht wahr sei. Am frühen Abend kam Dimitrij vorbei, und sie fragte ihn mit gespielter Leichtigkeit: »Also, weißt du über meinen Vater und Karpenko Bescheid?« Die Frage traf ihn so unvorbereitet, daß er rot anlief und heiser hervorstieß: »Wie, zum Teufel, hast du das erfahren?«
    Es war Abend. Um das Risiko der Entdeckung zu vermindern, betraten sie den überfüllten Bemskij-Bahnhof einzeln. Vladimir sah mit seinem gegürteten Bauernkittel, einen Sack über die Schulter geworfen, wie ein russischer muschik aus, genau wie sein Großvater Sawa, als er den Bahnsteig entlangschritt. Wenige Minuten später bestieg auch ein schüchternes junges Bauernpärchen den Zug. Karpenko war freudig erregt. Erstens war die ganze Sache ein Abenteuer; zweitens würde er zum erstenmal seit einem Jahr seine Familie wiedersehen, und drittens kehrte er in die geliebte Ukraine zurück. Es war Zeit, wieder nach Hause zu gehen. Das mit der Revolution war ja ganz in Ordnung. Er hatte sie wie jeder andere unterstützt. Aber wie konnte er gutheißen, wie sie mit seiner Heimat umgingen? Die Bolscheviken hatten weder für das ukrainische Volk noch für seine Sprache etwas übrig. Anfang des Jahres hatte der Chef der Tscheka in Kiev Leute auf der Straße erschossen, wenn er sie Ukrainisch sprechen hörte. Wie hätte ein Karpenko das einfach hinnehmen können?
    Es fiel ihm auf, daß Nadeschda angespannt und unruhig wirkte, aber er dachte nicht weiter darüber nach. Schließlich ging er zu Vladimir in den anderen Wagen, um ihm mitzuteilen, daß sie alle sicher im Zug seien. Nadeschda meinte, er solle ruhig bei ihrem Vater bleiben. »Ich möchte heute nacht allein sein«, sagte sie nur. So bemerkte Karpenko nicht, daß das Mädchen einige Minuten vor der Abfahrt den Zug verließ.
    Popov hatte es eilig. Er hatte einen Militärwagen organisiert, der ihn zum Haus der Suvorins brachte; nun ließ er sich rasch weiterfahren. Wie hatte er nur so dumm sein können! Nadeschda hatte es nur deshalb gewagt, ihn zu beleidigen, weil sie wußte, daß sie ihn nie wiedersehen würde.
    Zwei Möglichkeiten, die Stadt zu verlassen, lagen für die Suvorins auf der Hand. Welche Spur sollte er aufnehmen? Popov warf eine Münze. Mit tränenblinden Augen ging Nadeschda den Bahnsteig entlang.
    Seit dem gestrigen Abend hatte sie sich

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