Russka
Vladimir zu seinem Vater. Zum erstenmal spürte er eine Spannung zwischen ihnen. Merkwürdiger noch war, daß sein Vater in fast schneidendem Ton mit seinem Bruder sprach: »Ich bin überrascht, daß du mir vorzuschlagen wagst, ich solle mein Land verlassen.« Vorsichtig und mit großer Geduld hatte Vladimir seine Absichten deutlich zu machen versucht. Da war einerseits der wachsende Terror seitens der Tscheka, andererseits die Gefahr von außen. »Es gibt nur zwei Lösungen, wenn ein Regime in einer solchen Lage ist«, argumentierte er. »Entweder wird es gestürzt, oder es baut eine Diktatur auf. Wenn du mich fragst: Ich bin jetzt sicher, daß die Bolscheviken an der Macht bleiben. Der Mord am Zaren setzt ein Zeichen für ihre Absichten. Sie werden standhalten und kämpfen. Ich jedenfalls werde dabei zugrunde gehen.« Professor Suvorin war nicht sonderlich am Schicksal des Zaren interessiert. Vladimir betrachtete seinen Bruder und dachte, daß Peter manchmal überraschend ignorant sei. Was hatte Sawa nur aus Peter gemacht? Verglichen mit Vladimirs tiefem, weit gespanntem Geist dachte sein Bruder, wenn auch auf seine Art brillant, eher oberflächlich. Er hatte ihn gründlich über die Ereignisse der vergangenen Monate ausgefragt: über die bolschevikische Machtergreifung, die Amtsenthebung gemäßigter Sozialisten wie des Professors selbst. All das, gab Peter zu, hatte ihn sehr erregt. »Letzten Endes mußte es vielleicht so kommen, sieht du das nicht, Vladimir? Wir haben eine Revolution; das ist doch der entscheidende Punkt.« Sein Lächeln, der kindlich-klare Blick seiner Augen veranlaßte Vladimir zu der mürrischen Bemerkung: »Vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, du siehst nur das, was du sehen willst.« Warum nur drängt mich Onkel Vladimir dermaßen zur Abreise, obwohl mein Vater dagegen ist? überlegte Dimitrij. Ich habe nicht die geringste Lust fortzugehen.
Die letzten Monate waren aufregend gewesen. In der gärenden Revolution gingen die Künstler der Avantgarde auf die Straße. Plakate und Proklamationen wurden von Dichtern wie Majakovskij unterzeichnet. »Jeder Künstler ist ein Revolutionär, und jeder Revolutionär ist ein Künstler«, hatte einer von Dimitrijs jungen Freunden erklärt. Karpenko malte fleißig, und er, Dimitrij, würde sie alle mit seiner neuen Symphonie überraschen – eine Hymne auf die Revolution. Wie sollte er da den Wunsch haben, abzureisen? Als Peter schließlich das Zimmer verlassen hatte, erklärte Vladimir offen: »Ich muß dich bitten, mit nach Kiev zu kommen, Dimitrij, denn ich habe es deiner Mutter lange vor ihrem Tod versprochen.«
»Aber warum bestand sie nur darauf?«
Vladimir seufzte. »Sie hatte geträumt, dir werde etwas geschehen, wenn du bleibst.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich kann meinen Vater nicht verlassen – ich möchte auch selbst nicht fort von hier. Außerdem hat meine Mutter immer gesagt, daß ich ein Musiker sein werde.«
Vladimir gab auf. Nur Karpenko erklärte sich mit der Abreise einverstanden. Ruhig sagte er: »Ich fahre mit Ihnen nach Kiev. Ich möchte nach Hause.«
Am nächsten Tag bat Dimitrij seinen Vater um einen Gefallen. Mit der Symphonie an die Revolution kam er gut voran. In dem langsamen Satz wollte er etwas einbauen, das er bereits komponiert und orchestriert hatte, als er zwei Jahre zuvor auf dem Land gearbeitet hatte. »Wahrscheinlich habe ich es in Russka in Onkel Vladimirs Haus liegengelassen. Wie ich höre, geht kaum jemand dorthin, und so wird es wohl noch dort sein. Aber ich habe keine Zeit hinzufahren.«
Peter lächelte. »Das erledige ich gern für dich.« Nadeschda hatte sich längst an ihr neues Leben gewöhnt. Sie hatte die einfachen Arbeiter gern, die sie im Haus herumführte. Es machte ihr auch nichts aus, wenn sie ihr beim Putzen zusahen. Aus reiner Bequemlichkeit kleidete sie sich häufig wie eine Bäuerin, mit einem Schal um den Kopf. Vor allem war es schön für sie zu wissen, daß sie in der großen Lebenskrise ihres Vaters an seiner Seite war. Sie dachte bitter an ihre Mutter: Ich wenigstens bleibe bei ihm! Das Erscheinen Jevgenij Popovs verärgerte sie allerdings. Zwei- bis dreimal kam er wöchentlich vorbei, inspizierte neugierig das Haus, warf einen Blick in ihre Wohnung und verschwand mit einem kurzen Nicken. »Ich hätte Lust, ihm die Türe vor der Nase zuzuschlagen«, sagte sie einmal erbost zu ihrem Vater, aber er meinte nur ruhig: »Du darfst einen Mann wie ihn nicht erzürnen. In
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