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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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großen Haus wohnte und sein Onkel Arina haßte, wurden sie nicht aufgefordert, teilzunehmen. Aber Ivan war hinausgeschlüpft und hatte die Vorgänge mit angesehen. Zwei Lager befanden sich unter der Erde am Waldrand. Noch klüger versteckt waren zwei versiegelte Behälter, die man ein Stück flußaufwärts im Wasser versenkt hatte. Ein Rest Getreide lag noch gut sichtbar in einem großen Lagerhaus am Ende des Dorfes. »Das können die Räuber ruhig mitnehmen«, hatte Onkel Boris gemeint.
    In ganz Rußland schwelte Empörung auf dem Lande. Eine Woche zuvor hatten die Leute in einem Weiler zwei bolschevikische Beamte mit Mistgabeln verjagt und einen dritten getötet. Im vergangenen Jahr hatte die Provisorische Regierung verfügt, daß alles überschüssige Getreide zu Festpreisen an die Regierung verkauft werden müsse. Doch da die Preise niedrig waren, hatten die meisten Bauern diese Verordnung ignoriert. Nun behaupteten die Bolscheviken – oder Kommunisten, wie sie sich inzwischen nannten –, das sei Spekulation, und die Tscheka-Offiziere hatten Leute gefangengenommen und erschossen. »Sie bezahlen sechzehn Rubel für ein pud Roggen. Wißt ihr, was ich dafür in Moskau bekommen würde? Fast dreihundert Rubel!« wetterte Boris. »Sollen sie nur kommen und sehen, was sie finden können.«
    Da kamen sie: dreißig bewaffnete Männer, in ziemlich schmutzigen Uniformen. An ihrer Spitze gingen zwei Gestalten in Ledermänteln, der eine jung, der andere vielleicht sechzig, mit grauem Haar, das einen rötlichen Schimmer hatte. Als sie näher kamen, hörte Ivan seinen Onkel murmeln: »Verdammt, das ist doch dieser verfluchte Rotschopf!«
    Popov näherte sich dem Ort ohne sentimentale Regungen. Er kam nur in diese Gegend, weil Lenin persönlich ihm das aufgetragen hatte. Er hatte doppelte Order: Getreide einzukaufen und die Dorfbewohner zur Räson zu bringen. Lenin hatte es präzise formuliert.
    Popov lächelte grimmig, als er an seine Erfahrungen hier in früherer Zeit dachte. Wer war ein Kulak – ein erfolgreicher Bauer? Seiner Ansicht nach waren alle Bauern pétits bourgeois. Es war an der Zeit, mit eisernem Besen zu kehren.
    Nun standen Popov und der Dorfälteste einander gegenüber. Falls sie einander tatsächlich erkannten, ließen sie es sich nicht anmerken.
    »Wo ist das Getreide?« fragte Popov leise. »Dort drüben, Genosse Kommissar.« Boris deutete auf das Lagerhaus.
    Popov warf nicht einmal einen Blick dorthin. »Durchsucht das Dorf«, befahl er den Soldaten barsch.
    Die beiden Kommissare gingen durchs Dorf, inspizierten die Hütten, begleitet von Boris, der sich, so schien es, beeilte, ihnen alles zu zeigen. Ivan hatte seinen stämmigen, arroganten Onkel noch nie in einer solchen Situation gesehen: Er verneigte sich und machte Kratzfüße wie ein Kneipenwirt aus früheren Tagen, und er titulierte Popov »Genosse Kommissar«. Doch Popovs Gesicht glich einer Maske.
    »Nichts, Kommissar« berichtete der Feldwebel. Popov wandte sich an Boris mit der Frage: »Was ist dort oben in dem großen Haus?«
    »Nichts Besonderes, geschätzter Genosse Kommissar. Nur seine Mutter.« Damit deutete er auf Ivan. »Schön. Wir wollen es sehen.«
    Sie stiegen den Abhang hinauf. Oben machte Popov einen kurzen Rundgang. Er bestand auf einer Inspektion des Speichers, der Außengebäude und der Werkstätten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Gebäude keine Lagerräume enthielt, trat er heraus und forderte die Leute auf, sich vor der Veranda zu versammeln.
    Es waren sechs Dorfbewohner, die ihnen aus reiner Neugier gefolgt waren, außerdem Boris, Ivan, Arina und drei Rotarmisten. Popov wandte sich an Boris. »Du bist der Dorfälteste. Schwörst du, daß ihr kein Getreide habt?«
    »Ja, Genosse Kommissar.« Boris nickte bestätigend. »Sehr schön.« Popov winkte einen der Soldaten herbei. »Kümmere dich um sie!« Dabei deutete er auf Arina. Dann wandte er sich an den kleinen Ivan. »Nun sage mir, wo es versteckt ist«, sagte er freundlich. Als der zweite Behälter mit Getreide aus dem Fluß gezogen worden war, wurde Boris von einem Rotarmisten erschossen. »Und jetzt wird ein richtiges Dorfkomitee aufgestellt«, verkündete Popov.
    Es war nicht einfach, die Revolution aufs Land zu bringen, doch der neue Plan, den die Führer ausgearbeitet hatten, besaß eine gewisse brutale Logik. Die Kulaks, die Schwindler, die reichen Bauern, mußten vertrieben werden, und wer konnte das besser tun als die armen Bauern, die Mehrheit also.

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