Russka
unglaublich beherrscht. Sie hatte den Vater bei seiner Rückkehr wie üblich geküßt. Am Morgen hatte sie noch einige Fabrikarbeiter durchs Museum geführt, abends dann, wie geplant, das große Haus verschlossen, sich wie eine Bäuerin gekleidet und war hinausgeschlüpft, um Karpenko zu treffen. Doch sie wollte nicht mit ihnen abreisen, mit ihrem Vater und seinem Geliebten. Sie würde diese geheime Schande, diesen Betrug nicht mit ihnen teilen, der sich wie ein furchtbar tiefer und dunkler Abgrund vor ihr auftat. Es war entsetzlich – viel schlimmer als der finanzielle Ruin, der sie getroffen hatte. Alles, woran sie geglaubt hatte, war zerbrochen.
Was würde nun aus ihr werden? Vielleicht ließ man sie weiter im Museum arbeiten, oder Onkel Peter und Dimitrij würden ihr helfen. Oder Popov würde sie erschießen lassen. Was auch immer geschehen würde, es war ihr egal.
Sie war am Ende des Bahnsteigs angelangt. Gleichgültig hörte sie das Pfeifen. Da stieß plötzlich jemand sie an, hielt sie fest. Es war Popov. Auch noch Jahre danach begriff sie nicht, was dann geschehen war. Popov, der verhaßte Mann, hielt sie fest in seinen Armen. Popov, erstaunlich sanft und doch bestimmt, drehte sie um, zwang sie, den Bahnsteig wieder zurückzugehen. Seine Stimme war an ihrem Haar. »Bist du ihnen davongelaufen, schönes Kind? Weil ich dir das erzählt habe, nicht wahr? Ich glaube schon. Sag nichts! Glaub mir, es gibt viel Schlimmeres. Er ist nicht so übel, dein Vater. Da sind wir schon.«
Er führte sie am Zug entlang und sah in jedes Abteilfenster. Er würde die beiden entdecken. O Gott, was hatte sie angerichtet! Sie versuchte sich loszureißen.
»Flieg mir nicht weg, Vögelchen. Ach, da sind sie ja.« Er öffnete die Waggontür. Sie sah wie durch einen Schleier ihren Vater und Karpenko. Popov murmelte etwas. Etwas über ihre Mutter. Was sollte sie ihr ausrichten? Daß er sie liebe? Da wurde sie in den Waggon, in die Arme ihres Vaters gestoßen, und die Tür schlug geräuschvoll zu. Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.
Popov blickte mit verlegenem Lächeln hinterher. Monatelang war er in dieses Haus gegangen, um zu sehen, ob das Mädchen sicher war, ob es ihm gutgehe. Es war albern von ihm gewesen, auf sie böse zu sein. Als ihm klar wurde, daß die Suvorins an Flucht dachten, hatte er zunächst beabsichtigt, sie zu verhaften. Doch dann hatte er seine Meinung geändert. Warum sollte er das nicht zugeben? Es war der Anblick dieses verrückten weinenden Mädchens gewesen. Moskau war kein Ort für sie. Sollte sie doch wegfahren; sollte der Vater sie doch dorthin mitnehmen, wohin sie gehörte! Zu Frau Suvorin. Frau Suvorin – jene einzige Insel der Liebe, der er in vielen Jahren auf dem großen Strom begegnet war, auf dem Strom, der ihn mächtig und unerbittlich mit sich führte. Popov erlaubte sich selten eine Schwäche. Vielleicht würde er nie mehr aus der harten schützenden Hülle heraustreten, die sich wie ein Panzer um ihn herum gebildet hatte. Frau Suvorin und seine letzte Verbindung zu ihr waren aus seinem Leben verschwunden. Jetzt gab es nur noch die Revolution. Schließlich hatte er sein Leben lang dafür gelebt.
Niemand konnte je klären, was mit Peter Suvorin geschehen war. An einem Tag Ende Juli wurde er in Russka gesehen. Von dort ging er ins Dorf und fragte den Dorfältesten, ob man ihn in das große Haus einlasse.
Einige in der Nähe stehende Leute erinnerten sich später an die Überraschung des Ältesten, Boris Romanov, als Suvorin seinen Namen nannte. Romanov zeigte sich dann sofort sehr hilfreich. Er führte Peter ins Haus und half ihm den Stoß Papiere suchen, nach dem er forschte, Noten, die in einem Schrank eingeschlossen waren. Dann begleitete Romanov den Fremden persönlich durch den Wald nach Russka. Danach wurde er nicht mehr gesehen, es wurde auch nie eine Spur von ihm gefunden.
Dimitrij Suvorin vollendete den herrlichen langsamen Satz seiner Revolutionssymphonie aus dem Gedächtnis. Er widmete sie selbstverständlich seinem Vater.
Der kleine Ivan beobachtete die Ankunft der Roten Armee sehr aufmerksam. Sie hatten zwei politische Kommissare dabei, von denen der Ältere ein ziemlich wichtiger Mann zu sein schien. Der Kommissar und sein Onkel Boris. Ivan war gespannt, wer der Stärkere sein würde.
Das Dorf hatte sich sorgfältig vorbereitet. Eine Woche zuvor, Anfang August, hatten Männer und Frauen das Getreide in neue Verstecke gebracht. Weil er mit seiner Mutter oben in dem
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