Russka
Komitees der Armen mußten unverzüglich gebildet werden und die Kontrolle über die Dörfer übernehmen.
Was Popov betraf, war dies eine der wenigen Ideen Lenins, mit denen er nicht einverstanden war. »Es ist so«, war sein Argument, »daß die meisten Bauern nicht arm sind, sondern ganz gut zurechtkommen. Sie können zwar meist keine Arbeitskräfte einstellen, aber sie erwirtschaften sich doch immerhin einen bescheidenen Mehrertrag. Die Hälfte der armen Bauern sind einfache Bauern, die zu Trinkern wurden.«
Aber gut, wenn Vladimir Iljitsch seine Armenkomitees wollte, sollte er sie haben. Popov blickte umher. »Du dort«, er deutete plötzlich auf Ivan, »deine Mutter ist Witwe. Welches Land gehört euch im Dorf?«
Als Waise und ohne die Unterstützung seines Onkels besaß Ivan damals tatsächlich das kleinste Stück Land von allen männlichen Bewohnern des Ortes.
»Du übernimmst den Vorsitz des Komitees«, sagte Popov. Das Komitee würde ohnehin nur auf dem Papier existieren. Er war gespannt, wie lange der Junge durchhalten würde. Am späten Nachmittag kehrte Popov, zufrieden mit seiner Tagesleistung, nach Russka zurück. Unterwegs kam er am Kloster vorüber. Es war jetzt leer. Die Mönche hatten es nach der Konfiszierung im Januar verlassen müssen. In der Hoffnung jedoch, die Regierung möge einlenken oder gestürzt werden, hatten sie alles zurückgelassen. Ein alter Priester, der noch in der Stadt wohnte, kümmerte sich darum. Da er nun einmal hier war, dachte Popov, er könne auch das Kloster inspizieren. »Gehen wir hinein«, befahl er. Es war ganz leer und sehr still. Küche und Lagerraum waren weitgehend geplündert, einige Fenster eingeschlagen, doch ansonsten war das Kloster in gutem Zustand. Popov besichtigte alles sehr genau, allein. Aus dem Kloster in Russka könnte man ein ordentliches kleines Gefängnis oder eine Besserungsanstalt machen, dachte er. Schließlich machte er sich eine kurze Notiz: Tscheka Bescheid sagen.
Am Eingang hatten die Soldaten ein kleines Feuer angezündet. Der junge Kommissar brachte eilig Gegenstände aus dem Kloster, um sie zu verbrennen. Eben waren Ikonen an der Reihe. »Ich wußte nicht, daß du so antireligiös bist«, meinte Popov freundlich. »O doch! Sind wir das denn nicht alle?«
Popov zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.« Er warf einen Blick auf die Ikone, die dieser Bursche gerade in die Flammen warf. Sie kam ihm bekannt vor. »Ich finde die hier ziemlich schön.«
»Es gibt keine schönen Ikonen«, erwiderte der Jüngere. »Vielleicht.« Popov sah zu, wie das kleine Bild Feuer fing. Und so verschwand das größte Geschenk der Bobrovs an das kleine Kloster: die berühmte Rublev-Ikone.
Als die Dunkelheit hereinbrach, löste sich eine einzelne Gestalt vom Wald hinter dem Dorf und ging zum Flußufer, wo Arina mit einem kleinen Boot wartete. Ivan hatte sich versteckt gehalten, seit die Soldaten abgezogen waren. Nach den Ereignissen des Nachmittags blieb ihm keine Wahl. Würden die Söhne Boris Romanovs es ihm je verzeihen, daß er an ihres Vaters Tod schuld war? Würden die Dorfbewohner es vergessen können, daß er ihr Getreide weggegeben hatte? »Wenn ich am Morgen noch hier bin, bin ich ein toter Mann«, sagte er zu seiner Mutter. »In welche Richtung fährst du?« fragte sie. »Nach Süden, hinunter bis zur Oka, dann folge ich ihr bis Murom.«
»Und was wirst du machen?«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht gehe ich zum Militär.«
»Hier ist Geld.« Arina küßte ihn. »Du bist mein einziger Sohn«, sagte sie einfach. »Wenn du stirbst, möchte ich es erfahren. Sonst glaube ich, daß du immer noch lebst.«
»Ich werde leben.« Noch einmal umarmte er sie, dann stieg er ins Boot. Fern im Süden stand ein halber Mond. Ivan stieß das Boot vom Ufer ab.
1920
Es war Oktober, und es wurde kalt, aber die Arbeit war fast getan; eine einfache Säuberungsaktion. Der Lastwagen und die Überbleibsel des Geschützes vor ihnen waren nicht viel mehr als geschmolzenes Metall. Ein halbes Dutzend Gefallene lagen umher, einer lebte wohl noch, ein Offizier.
Ivan bewegte sich vorsichtig weiter. Um ihn her dehnte sich die leere Steppe Südrußlands bis zum Horizont. Der Krieg stand kurz vor seinem Ende. Die Weißen und ihre ausländischen Alliierten waren ein- oder zweimal fast erfolgreich gewesen. Eine kurze Zeit hatte es so ausgesehen, als würde Petrograd fallen. Denikin, Wrangel und andere hatten tapfer gekämpft, doch es hatte ihnen immer der
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