Russka
nur noch ein ausgefranster Rest davon war übrig.
Am Gürtel war ein lederner Trinkbeutel befestigt, der Kumyß enthielt, ein alkoholhaltiges Getränk aus vergorener Stutenmilch, das sein Volk sehr schätzte. Am Sattel hing ein Beutel mit Trockenfleisch. Als mongolischer Krieger hatte er immer alles bei sich, was er brauchte. Dazu gehörte auch seine Frau; sie ritt mit dem Baby hinter ihm in dem langen Kamelzug, der das Gepäck beförderte.
Langsam zog das große Heer über die gefrorene Steppe. Wie gewöhnlich war es in fünf etwa gleich große Einheiten aufgeteilt: an jedem Flügel zwei – eine Vorhut und eine Nachhut – und in der Mitte eine einzige Division.
Mengu befehligte den rechten Flügel. Hinter ihm ritten seine hundert Mann. Es war leichte Reiterei, jeder hatte zwei Bogen und zwei Köcher voller Pfeile, die er aus vollem Galopp abschießen konnte – bis zu hundert Meter weit. Zu Mengus Linker befand sich schwere Kavallerie. Die Männer führten Säbel und Lanzen, eine Streitaxt oder Keule, je nach Belieben, und ein Lasso mit sich. Mengu selbst ritt einen pechschwarzen Rappen, was ihn als Angehörigen der schwarzen Brigade der fürstlichen Wachelite kennzeichnete.
Er freute sich, daß seine Frau und sein Erstgeborener dabei waren: Sie sollten den Triumph miterleben. Es war sein erstes Kommando. Die Mongolenarmee spiegelte in ihrem Aufbau das Dezimalsystem wider. Die kleinste Kommandoeinheit umfaßte zehn Mann, die nächste über hundert. Die älteren Männer befehligten eintausend Mann, die Generäle zehntausend. Mengu führte den Befehl über hundert. »Nach diesem Kampf werde ich tausend führen«, versprach er seiner Frau. Wie sehr wünschte er sich eine Beförderung! Aber man mußte umsichtig vorgehen.
Wenn auch alle Männer im Dienste des Großen Khan gleich waren und jede Beförderung nach Verdienst erfolgte, waren schnelles Urteilsvermögen und Taktgefühl wohl die angesehensten Eigenschaften. Es war natürlich auch nützlich, für den Aufstieg einem erfolgreichen Clan anzugehören. Ich bin, so überlegte Mengu, vom gleichen Stamm wie zwei Generäle. Das verschaffte ihm den Eintritt in die fürstliche Wache. Ein anderer Faktor konnte ihn vielleicht noch schneller vorwärtsbringen. Bei einer der Schönheitskonkurrenzen, die der Große Khan regelmäßig abhielt und zu der alle prominenten Mongolen ihre Töchter schickten, war Mengus Schwester dem Batu Khan persönlich als erste Konkubine zugewiesen worden.
Sie wird Mittel und Wege finden, ihn auf mich aufmerksam zu machen, dachte er zuversichtlich, während sein Gesicht unbeweglich dem Horizont zugewandt war. Bald würden sie den Waldrand erreichen.
Im zwölfjährigen Tierkalender der Mongolen waren es noch zwei Jahre bis zum Jahr der Ratte. Am Ende jenes Jahres würde das Land der Rus erobert sein – so sicher, wie die Sonne aufgeht und die Sterne scheinen. Denn sie, die Mongolen, würden sich die Welt unterwerfen. Mengu war davon überzeugt. Tschingis Khan hatte es ihnen gesagt. Tschingis Khan, der 1206, nur dreißig Jahre zuvor, alle mongolischen Stämme unter sich vereinigt und von den alten türkischen Reichen der asiatischen Ebene den Titel »Kagan« oder »Khan« übernommen hatte. »Tschingis« bedeutete »der Allmächtige«.
Aus ihrer Heimat in den Weidegründen oberhalb der Wüste Gobi stießen diese Reiterkrieger südwärts über die Große Mauer nach China vor, dann westwärts gegen die türkischen und moslemischen Staaten von Zentralasien und Persien. Es gab ungeheure Schlachten, und Tschingis zermalmte alles. Innerhalb weniger Jahre war die Stadt Peking gefallen; um 1220 gehörte Tschingis der größte Teil von Persien. Nun überquerten die Mongolen die Berge und ritten hinunter in die weite Ebene Nordeurasiens. Es war Tschingis Khans Ziel, nicht nur die wichtigen Karawanen-Straßen nach Westen zu kontrollieren, sondern einen Staat zu gründen, von dem aus die gesamte Welt zu regieren war. Sein Ziel – was die Geschichtsschreibung nicht ohne Grund gern übersieht – war der Weltfrieden. Die Gesetze für diese neue Weltordnung waren von Tschingis Khan in seinem Kodex, der großen »Yasa«, festgelegt. »Alle Menschen sind gleich«, hieß es da, »und alle sollen, jeder auf seine Weise, dem Großen Khan dienen.« Das Imperium des Tschingis Khan war eine Art Wohlfahrtsstaat. Er gestattete auch umfassende Religionsfreiheit. Es galt die Losung: »Es gibt einen Gott im Himmel und einen Herrscher auf Erden – den Großen
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