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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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neuen nördlichen Hauptstadt zu bestimmen, brachten die Fürsten eine geweihte Ikone der Gottesmutter aus Griechenland in die neue Kathedrale von Vladimir. Eine grundsätzliche Schwäche hatte der Staat der Rus: Er war nicht geeint. Obwohl die Gesetze der brüderlichen Erbfolge auf die Position des Großfürsten noch Anwendung fanden, wurden einzelne Städte mit der Zeit zu Machtzentren verschiedener Zweige zahlreicher Herrscherhäuser. Kein Herrscher in Vladimir brachte sie je zu einer Einheit zusammen. Die Mongolen wußten das sehr wohl.
    1239
    Yanka erwachte in der Morgendämmerung. Der Himmel färbte sich blaß. Lautlos glitt sie vom warmen Wandbord über dem Ofen und ging zur Tür. Sie hörte ihre Eltern und den Bruder Kiy atmen. Keiner bewegte sich. Sie zog den Pelz und ihre dicken Filzstiefel über, schob den Türriegel zurück und trat hinaus in den knirschenden Schnee.
    Das Dorf lag grau im Dämmerlicht. Es war windstill. Yanka nahm nur den angenehmen Geruch der Holzfeuer wahr, der aus den kaminlosen Häusern drang. Kein Mensch war zu sehen, als sie sich auf den Weg machte.
    Sie war sieben Jahre alt, ein ruhiges, selbstsicheres kleines Mädchen mit braungesprenkelten blauen Augen und strohblondem Haar. Yankas Mutter hatte eine ansehnliche Mitgift eingebracht, darunter mehrere Bienenstöcke. Sie war eine fröhliche, kluge Frau, hatte von ihren Vorfahren das dichte schwarze Haar und den gedrungenen Körperbau geerbt.
    Gleich würde die Sonne aufgehen. Yanka wanderte weiter. Ich will die Sonne über der Steppe aufgehen sehen, dachte sie, bevor ich wieder heimgehe.
    Um Russka war es in letzter Zeit einsam geworden. Das Fort gab es zwar noch, aber es war kaum besetzt, da in Perejaslavl kein Fürst saß. Die Familie des Bojaren war dem Dorf seit langem fremd geworden. Ivanuschkas Enkel mit Namen Ivan hatte ein kumanisches Mädchen geheiratet, und ihr Sohn, ein seltsamer hellhaariger Bursche namens Milej, hatte kein Interesse an Russka. Die Familie des Bojaren besaß auch große Ländereien im Nordosten, jenseits der Oka. Der Bojar selbst lebte in Murom. Sein Verwalter inspizierte den Ort von Zeit und Zeit und kassierte, was seinem Herrn vom Honigertrag zustand. Die Familie unterhielt außerdem auch die kleine Kirche.
    Während Yankas kurzem Leben hatte sich in Russka sorglose Apathie breitgemacht. Die Bewohner holten die Ernte ein und sammelten den Honig, betrogen den abwesenden Bojaren und sangen an den warmen Abenden am Rand der südlichen Steppe. Es gab nur Gefahr am Horizont. Im Norden hatte sich im vergangenen Jahr ein schlimmer Überfall ereignet. Die Rumänen, oder wer es gewesen sein mochte, hatten großen Schaden angerichtet. Und im Herbst war der Verwalter des Bojaren nicht erschienen. Als Yanka zum Waldrand kam, war die Sonne eben über dem Horizont aufgetaucht. Vor ihr schienen sich die Schneefelder endlos nach Osten auszudehnen. Etwa eine Meile entfernt bezeichnete eine kleine Erhebung die Stelle des ehemaligen kurgan. Yanka trat zwischen den Bäumen hervor. Lächelnd atmete sie die eisige Luft ein. Jetzt konnte sie wieder nach Hause gehen. Als sie sich eben umwenden wollte, entdeckten ihre scharfen Augen fern am Horizont einen winzigen Punkt. Sie blickte unverwandt hin, schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Der Punkt schien sich nicht zu bewegen. Wurde er größer? Yanka war nicht der Meinung. Sie machte sich auf den Heimweg, während die Sonne vom Tag Besitz ergriff.
    Mengu beobachtete das Mädchen. Im ersten Licht war er vom Lager fortgeritten und bald auf eine kleine Erhebung gelangt, von der aus er einen guten Überblick hatte. Jenseits der offenen Steppe konnte er etwa zehn Meilen entfernt den Waldrand sehen und auch die kleine Gestalt, die zwischen den Bäumen hervortrat. Yankas Augen waren zwar scharf, doch die des Mannes aus der Steppe waren schärfer. An einem klaren Morgen, ehe Staub oder Dunst sich erheben, konnte er einen Menschen auf eine Entfernung von fünfzehn Meilen oder mehr ausmachen. Mengu lächelte. Wie einfach es doch gewesen war! Die Städte im Norden – Rjazan, Murom, Vladimir – hatten sie im Handstreich genommen. Der Großfürst und seine Armee waren geschlagen. Es war schade, daß das Frühlingswetter sie zum Rückzug gezwungen hatte, bevor sie Novgorod erreichten. Nun waren sie im Winter zurückgekommen, um den Süden zu erobern. Und auch dabei hatte sich ihre Umsicht gezeigt. Der Winter war die beste Zeit, Rußland anzugreifen. Im Frühling und Herbst machte der

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