Russka
Außerdem regierten jenseits des Schwarzen Meeres die moslemischen Türken im alten Konstantinopel, das nun Istanbul hieß. Katholiken im Westen, Moslems im Süden. Vom Osten her fielen regelmäßig die tatarischen Steppenvölker ein.
Dagegen gab es verschiedene Verteidigungslinien: die Vasallensiedlungen ehemals feindlicher Tataren jenseits der Oka, außerdem kleine Forts, befestigte Garnisonsstädte. Niemand jedoch hatte sie bislang unter Kontrolle gebracht, bis zu diesem Jahr, als sie ihren Herrn fanden. Boris lächelte geheimnisvoll. Zu seinen Füßen lagen, an den Händen gefesselt, zwei Tataren, die er selbst gefangen hatte und nun auf seinen kleinen Besitz in Russka bringen wollte. Er würde ihnen zeigen, wer ihr Herr war.
Dieser Feldzug war erst der Anfang. Weit im Süden am Wolga-Delta, wo einst die Chazaren herrschten, lag eine weitere Tatarenhauptstadt: Astrachan. Sie würde wohl als nächste fallen. Dann käme der Oberste aller westlichen Tataren unten am Schwarzen Meer an die Reihe, der Krim-Khan in seiner Festung: Bachtschisaraj.
Er war eine furchterregende Gestalt. Sein Palast war so berühmt wie der Topkapi-Palast des Sultans in Istanbul, und selbst der Osmanenherrscher war froh, in dem Krim-Khan einen Verbündeten zu haben. Doch zur rechten Zeit würde auch dieser fallen, und später, östlich der Wolga, hinter den Wüsten, wo andere Tataren lebten – die Kazachen, Uzbeken, die Nogai-Horde –, die wilden, doch zersplitterten Stämme in den asiatischen Wüsten.
Dies war das große Ziel, das Zar Ivan sich gesteckt hatte: Ein christlich-russischer Zar würde eines Tages über das riesige Eurasien-Imperium des mächtigen Tschingis Khan herrschen. Zum erstenmal in der Geschichte unterwarfen Bewohner des Waldes die Bewohner der Steppe. Beim Verlassen Kazans hatte Boris tatsächlich gehört, wie von Ivan als dem »Weißen Khan«, dem »Westlichen Khan« also, gesprochen wurde. Kein Wunder, daß er mit so großer Erwartung nach vorn zum Schiff des jungen Zaren blickte.
Erst an diesem Morgen hatte der Zar ihn angesprochen. Und nicht nur das: Er hatte ihn in sein Vertrauen gezogen. Boris war von großem Stolz erfüllt.
Er war wirklich ein Held, dieser große dunkle junge Zar, der sich eine unglaubliche Aufgabe gestellt hatte. Mit drei Jahren bereits hatte er die Krone geerbt und mußte gedemütigt zusehen, wie die Fürsten und Bojaren um die Herrschaft in Rußland kämpften, die doch seine Sache war. Es gab zwei mächtige Gruppen, einerseits die vom alten russischen Herrscherhaus oder von den litauischen Regenten abstammenden Fürsten; andererseits die größten Bojarenfamilien, etwa fünfunddreißig Sippen, die den Kern der duma bildeten, des adligen Beratungsorgans.
Sie waren die mächtigen Intriganten, die Ivan ausschalten mußte. Sie haßten seine Mutter, weil sie Polin war. Sie verachteten seine Frau; aus den fünfzehnhundert geeigneten Bewerberinnen, die er nach Art der Khans sich vorführen ließ, hatte er ausgerechnet dieses Mädchen gewählt, das zwar aus einer alten Familie stammte, nicht jedoch aus einer Bojarenfamilie. Ivan hatte aus Liebe geheiratet.
Boris hatte Anastasia, die liebliche Gemahlin des Zaren, nie gesehen, doch hatte er oft über sie nachgedacht, denn er sollte nach seiner Rückkehr nach Moskau selbst heiraten. Er wünschte sich seine zukünftige Frau so wie Anastasia, die, so hieß es, dem Zaren in schwierigen Lagen unerschütterlich zur Seite stand, der er in allem vertrauen konnte.
Ihre Familie gehörte zwar nicht zu den größten Magnaten, aber sie war vornehm. Noch war der Familienname »Zacharin«, doch er wurde in »Romanov« abgewandelt.
Boris hatte für Fürsten und Magnaten nichts übrig. Warum sollte er sie stützen, wenn sie doch nur alle wichtigen Positionen an sich rissen und dem niederen Adel, dem er selbst angehörte, nur die Brosamen von ihrem Tisch ließen? Unter den autokratischen Fürsten Moskaus jedoch konnten Männer wie er vorwärtskommen. Während diese Herrscher versuchten, die Macht der einflußreichen Sippen zu brechen, förderten sie Männer aus unbekannteren Familien.
Zwei Jahre zuvor hatte Ivan tausend seiner besten Leute – Bojarenkinder nannte man sie, aber es waren auch einfachere Burschen darunter – ausgewählt und ihnen Land nahe Moskau geben lassen, damit sie stets zur Hand waren. Boris war zu seinem Leidwesen noch zu jung dafür. Aber immerhin war Russka, wenn auch ein unbedeutender Ort, nicht allzu weit vom Zentrum entfernt.
Daran
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