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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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selbstgegebene Versprechen hatte all die Jahre in ihr geschlummert. Eines Tages, das wußte sie, würde sie ihm begegnen, und das wäre ihre Gelegenheit. Und da stand er nun plötzlich, nur ein paar Schritte von ihr entfernt auf dem Hügel. Selbst von hinten erkannte sie ihn – jenen Tataren, dem ein Ohr fehlte.
    Er war allein. Yanka sah sich um; niemand sonst war zu sehen. Was hatte ihn hierher geführt? Wahrscheinlich wollte er die Tributeinnehmer treffen. Sie wußte, daß sie nie wieder eine solche Gelegenheit haben würde. Vor ihr tauchte das Gesicht ihrer Mutter auf.
    Yanka schlich vorwärts. Das Pferd stand an einem Baum. Auf dem Rücken hatte es einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Vorsichtig nahm sie den Bogen und legte einen Pfeil ein. Sie spürte die Spannung. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Tataren. Das Pferd schnaubte böse. Da wandte der Mann sich um. Er war es. Die Narbe zog sich bis zum fehlenden Ohr hin. Yanka erinnerte sich an dieses Gesicht, als habe sie es am Tag zuvor gesehen.
    Er hob überrascht die Hand, wußte nicht, wer sie war. Sie atmete tief ein, spannte den Bogen mit aller Kraft, zielte – der Pfeil schnellte vorwärts.
    Da hörte sie seinen Schrei. Wild gestikulierend kam er auf sie zu. Plötzlich fiel er auf die Knie. Der Pfeil hatte seinen Körper in der Magengegend durchbohrt. Sein Gesicht wurde weiß; er fiel zur Seite.
    Was würde er jetzt wohl tun? Voller Entsetzen hörte sie, daß jemand auf dem Pfad näher kam. Sollen sie mich doch töten, dachte sie, wenn nur meiner Familie nichts geschieht! Es war Purgas. Er erfaßte die Situation mit einem Blick, dann sah er seine Frau ungläubig an. »Er ist noch nicht tot«, sagte er sehr ruhig. Dann nahm er seinen Gürtel ab und erdrosselte den Tataren. Einige Augenblicke lang sah Mengu, der nun Peter hieß, vor sich das wogende Gras der Steppe, und er glaubte den Geruch wahrzunehmen.
    »Hast nicht du uns erzählt, man dürfe keinen Tataren töten«, sagte Purgas mit leisem Lachen. »Du kanntest ihn?« Als sie nickte, fragte er: »War er es…?« Er wußte, daß ein Tatar ihre Mutter umgebracht hatte, aber Yanka hatte ihm auch erzählt, ein Tatar habe sie vergewaltigt. »Wir können ihn nicht hier lassen«, erklärte er.
    »Sie bringen uns um«, flüsterte sie.
    »Das glaube ich nicht. Die Tributeinnehmer sind weg. Keiner erfährt etwas.« Er überlegte. »Zuerst müssen wir leider dieses Pferd töten. Das ist wirklich schade«, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf den Toten.
    Er wußte genau, wie er vorgehen mußte. Zuerst band er den Tataren auf seinem Pferd fest. Dann führte er das Tier unter beruhigendem Zureden tief ins Sumpfland. Dort zog er an versteckter Stelle einen Graben, stellte das Pferd genau darüber und schnitt ihm die Kehle durch. Ebenso verfuhr er mit dem Toten. Eine Stunde später waren die Körper ausgeblutet. Purgas zerlegte und verbrannte sie, ebenso die Ausrüstung des Tataren bis auf den Mantel und das Lasso. Gegen Mittag war nur noch ein Haufen verkohlter Knochen übrig außer dem Schädel, den Purgas nicht verbrannt hatte. Die Asche warf er in den Graben, den er wieder zuschüttete. Er hinterließ alles so, daß niemand, der vorüberkam, etwas hätte vermuten können. In der Nähe stand eine mächtige Eiche. Hoch oben im Stamm befand sich ein Loch, in dem Purgas im vergangenen Jahr einen Bienenschwarm entdeckt hatte. In Peters schwerem Mantel schleppten sie die Knochen zum Baum. Purgas kletterte hinauf, und mit Hilfe des Lassos zog er die Last nach oben, wo er sie in den hohlen Stamm versenkte. Dann verbrannte er auch den Mantel und das Lasso.
    »Die Tataren werden im Fluß und auf der Erde nach ihm suchen«, meinte er, »aber in den Bäumen bestimmt nicht.«
    »Was geschieht mit seinem Kopf?« fragte Yanka. Purgas lächelte. »Damit habe ich andere Pläne.«
    Milej der Bojar kehrte erst zwei Wochen später von Russka nach Murom zurück. Die Stadt war in heller Aufregung; in den Dörfern hatten sich zahlreiche Bewohner geweigert, Tribut zu zahlen; einige der moslemischen Tributeinnehmer waren angegriffen worden. Es hieß, daß der Großfürst Alexander Nevskij vorhabe, den Khan aufzusuchen und ihn um Nachsicht zu bitten. Und Peter, der baskak, war verschwunden.
    Milej wurde von einem Zenturio gefragt, wann er Peter zum letztenmal gesehen habe. »Erwar auf dem Weg nach Murom«, versicherte er.
    Es wurde eine gründliche Untersuchung durchgeführt. Alle Dörfer zwischen Russka und Murom

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