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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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»Ivanov«. Es konnte aber auch ein Spitzname sein.
    Auf diese Weise entstanden im sechzehnten Jahrhundert, wenn auch etwas verspätet, Familiennamen. Boris' Familie war stolz auf ihren Namen. Ivan der Große selbst hatte Boris' Urgroßvater den Spitznamen »Bobr« gegeben, was »Biber« bedeutete. So wollte die Familie eben einfach »Bobrov« heißen.
    Aber die Familie Bobrov verlor an Bedeutung, wie es damals typisch war für russische Adelsfamilien.
    Zuerst einmal wurden, über Generationen hin, die Besitzungen immer wieder aufgeteilt, und die letzten drei Generationen hatten es versäumt, neues Land zu erwerben. Der schlimmste Schlag erfolgte, als Boris' Großvater wie so viele seines Standes in hoffnungsloser Verschuldung dem ortsansässigen Kloster gegenüber diesem den gesamten Ort Russka übergab und für sich selbst nur die Ländereien in Sumpfloch behielt. Die Familie bewohnte ein Haus innerhalb des Dorfes, das das Kloster ihr gegen eine bescheidene Miete überließ; und da Boris den Namen Sumpfloch abscheulich fand, sagte er lieber, er komme aus Russka. In vieler Hinsicht konnte Boris jedoch zufrieden sein. Sein Besitz in Sumpfloch war, wenn auch durch Teilung verkleinert, immer noch guter Boden, und er war Alleinerbe. Es war auch eine votschina, also dem Feudalsystem unterstellt, und so gehörte ihm dieser Grund unter allen Umständen durch Erbfolge. In den vergangenen fünfzig Jahren nämlich wurde das Land immer seltener als votschina geführt, wurde vielmehr – entweder von verarmten Landbesitzern oder neuen Leuten bewirtschaftet – als pomeste, als Dienstgut, ausgewiesen, er stand also in einem Dienstverhältnis zum Fürsten. Und wenn auch, praktisch gesehen, das Land oft auf die nächste Generation innerhalb einer Familie überging, geschah das nur nach Lust und Laune des Fürsten.
    Trotzdem reichten Boris' Einkünfte kaum für Pferde, Rüstung und die alltäglichen Bedürfnisse. Er konnte seinen Familienstatus nur verbessern, wenn er die Gunst des Fürsten errang. Die Begegnung mit dem Zaren war also das bisher wichtigste Ereignis in Boris' Leben. Der Zar kannte nun immerhin seinen Namen. Aber er mußte mehr tun, um die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu lenken. Doch wie?
    Am Spätnachmittag kamen sie an einer Stelle vorüber, wo am linken Ufer die Wälder einem Steppenstreifen wichen. Dort sahen sie in einer Entfernung von etwa einer Meile eine Ansammlung von Hütten. Boris schnaubte ärgerlich, als er sah, daß sie sich bewegten. Er wußte sofort, daß es sich um Tataren handelte. Die Tataren an den Grenzen des Moskauer Reiches lebten großenteils in diesen seltsamen beweglichen Häusern – Holzhütten auf Rädern. In den Augen der Tataren waren die feststehenden Wohnstätten der Russen etwas Ähnliches wie Schweineställe, die Ratten und jede Art von Ungeziefer anlockten. Für Boris bewies dieser ständige Wechsel, daß die Tataren unstet und nicht vertrauenswürdig waren.
    Er sah hinunter auf die zwei gefangenen Tataren, vierschrötige, flachgesichtige Gesellen mit glattrasierten Köpfen. Es waren Moslems.
    Wenn auch der Feldzug ein Kreuzzug gewesen war, so bestand der Zar doch auf seiner Politik, die unterworfene tatarische Bevölkerung nicht durch Gewalt zum Übertritt zum Christentum zu bewegen. Er wollte, daß die Leute aus Überzeugung konvertieren. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, deuteten die Abgesandten des Zaren vorsichtig an, daß sich im Moskauer Reich bereits moslemische Gemeinden befanden, die mit Erlaubnis des Zaren in Frieden ihren Glauben ausüben konnten. Allerdings mußte ein Tatar, der in den persönlichen Dienst des Zaren eintreten wollte, Christ sein, denn Ivan selbst war strenggläubig.
    Die beiden Tataren würden in dieser Nacht übertreten. Und bald, dessen war Boris sich sicher, wäre auch er einer der wenigen Auserwählten des Zaren, einer seiner besten Männer. Früh am nächsten Morgen wurden die beiden Tataren von einem der mitreisenden Priester in der Wolga getauft. Nach russischem Ritual wurden sie dreimal ganz untergetaucht. Diese Szene konnte dem jungen Zaren nicht entgangen sein. Zwei Tage darauf erreichten sie die große Grenzstadt Niznij Novgorod. Sie erhob sich drohend über dem Zusammenfluß von Wolga und Oka. Östlich lagen die ausgedehnten Wälder, in denen die Mordvinen lebten. Im Westen befand sich das Herz des Moskauer Reiches. Die hohen Wälle und die weißen Kirchen der Stadt blickten über die Eurasische Ebene hin, als wollten sie sagen: Hier

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