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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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dachte Boris Bobrov auf dieser Bootsfahrt, und immer wieder dachte er an seine morgendliche Begegnung mit dem Zaren.
    Im Lager schlief noch alles. Die Boote lagen ruhig am Ufer. Es war die tiefe Stille vor der Morgendämmerung. Nichts regte sich auf dem Wasser. Der Himmel war leer. Es war, als wollten nicht einmal die wenigen Nachtvögel länger den großen Frieden der allmählich untergehenden Sterne stören.
    Boris war früh erwacht und stand nun am Ufer. Er hatte einen Pelzmantel angezogen und sich noch in der Dunkelheit aus dem Zelt geschlichen.
    Um diese Stunde überkam ihn häufig eine merkwürdige Empfindung, etwas wie Melancholie, bis hin zu tiefer Verlassenheit; ein Gefühl, das bitter und süß zugleich war.
    Wie er so neben den Booten stand, gingen seine Gedanken zurück zu seinen Eltern. Er konnte sich nur sehr fern an seine Mutter erinnern. Eine zarte Gestalt, die vor langer Zeit aus seinem Leben verschwunden war; sie starb, als er fünf Jahre alt war. So bedeutete der Vater die Familie für ihn.
    Er war vor einem Jahr gestorben. Boris hatte ihn nur als tragische Figur gekannt, verkrüppelt durch schlimme Verwundungen, die er kurz nach Boris Geburt in Kämpfen gegen die Tataren erlitten hatte. Zehn Jahre war er Witwer geblieben. Man konnte noch ahnen, daß er einst von stämmiger Statur gewesen war, doch seine blauen Augen lagen umschattet, tief eingesunken in dem Gesicht mit den türkischen Zügen; die Rippen an dem schmalen, gebeugten Oberkörper waren sichtbar. Nur mit Mühe richtete sich der Vater zu voller Größe auf. Doch er wollte Würde wahren, bis der Sohn alt genug war, um seinen Mann zu stehen.
    Dieses Durchhaltevermögen hatte den Jungen geprägt. Für ihn stellte sein Vater das Bild eines Heroen dar. »Jetzt bist du die Familie«, hatte der Vater gesagt. »Du hältst die Ehre der Familie hoch.«
    Er schloß die Augen und stellte sich seine Vorfahren vor, große, noble Gestalten, Krieger des Waldes, der Steppe, der Berge. Er gelobte ihnen, sie nicht zu enttäuschen. Die Familie Bobrov mit dem alten Emblem des tamga, des Dreizacks, würde wieder zu Ruhm kommen.
    Als er so über den Fluß sah, dachte er, ob sein Vater ihn wohl in der Dunkelheit sehen konnte, ob er wußte, daß sie über Kazan triumphiert hatten.
    Es mußte so sein. Gott würde dem Vater das Wissen nicht vorenthalten, daß sein Sohn den Familienbesitz wieder zusammenholen würde, diesen Kreis als Wiedergutmachung für den Vater schließen würde. Ja, so mußte es sein, sonst wäre Gottes Universum nicht vollkommen.
    Sicher würde er, Boris, eines Tages Erfolg haben, aus seiner Einsamkeit befreit werden. Mit seiner zukünftigen Frau würde sich sein Traum von Freundschaft und wahrer Liebe erfüllen. Hinter sich hörte er leise Schritte. Als er sich umdrehte, sah er einen Schatten auf sich zukommen, doch erst als dieser ganz nahe war, erkannte er zu seiner höchsten Überraschung, daß es Zar Ivan war. Boris verneigte sich tief.
    Der Zar stellte sich neben ihn. Erst nach langem Schweigen fragte er den Jungen nach seinem Namen. Wie sanft seine Stimme war! Er fragte ihn auch nach seiner Herkunft und schien zufrieden mit der Antwort. Dann schwieg Ivan wieder und sah auf den breiten Fluß, der blaß schimmernd in der Dunkelheit verschwand. Boris überlegte lange, ehe er ein paar Worte wagte: »Dir ist es zu danken, mein Gebieter, daß Rußland endlich frei wird.« Hatte er das Rechte gesagt? Beim Blick zur Seite sah er nur ein leichtes Stirnrunzeln auf dem langen Gesicht mit dem scharfen Profil.
    Dann sprach Ivan mit tiefer Stimme, so leise, daß Boris die Worte eben noch hören konnte: »Rußland ist ein Gefängnis, mein Freund, und ich bin Rußland. Es ist wie ein Bär, den die Menschen im Käfig halten, damit sie sich über ihn lustig machen können. Rußland ist von seinen Feinden umringt – es kann nicht bis an seine natürlichen Grenzen gelangen.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Es war jedoch nicht immer so. In den Tagen Monomachs war es anders.« Er machte eine Pause und fragte dann: »Sage mir, wie haben die Rus in den großen Tagen Kievs Handel getrieben?«
    »Vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer«, antwortete Boris. »Von Novgorod bis nach Konstantinopel.«
    »Und doch besetzten die Türken jetzt das Zweite Rom; ein Tataren-Khan kontrolliert die Häfen des Schwarzen Meeres. Und im Norden«, er seufzte, »brach mein Großvater Ivan der Große die Macht der Hanse in Novgorod, und trotzdem kontrollieren die Deutschen

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