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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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unsere nördlichen Küsten.«
    Boris kannte die Tatsachen. So reich Novgorod auch war, es mußte über die baltischen Häfen seinen Handel mit dem Westen abwickeln, die größtenteils in der Gewalt der deutschen Ritterorden oder der deutschen Kaufleute waren. Die einzigen russischen Häfen lagen zu weit nördlich, waren die Hälfte des Jahres zugefroren. »Rußland ist von Land umschlossen«, fuhr Ivan bitter fort. »Deshalb ist es nicht frei.«
    Boris war durch diese Worte sehr berührt, nicht nur von dem, was der Zar sagte, sondern von dem Schmerz in seiner Stimme. Dieser mächtige Gebieter, den Boris verehrte, litt ebenso wie er. In dieser Hinsicht war der Zar ein Mann genau wie er; einen Augenblick lang vergaß Boris den Standesunterschied und flüsterte eindringlich: »Aber dein Schicksal ist es, frei und groß zu sein. Gott hat Moskau als sein Drittes Rom gewählt. Du wirst uns führen!« Ivan nickte nachdenklich. »Gott führte uns nach Kazan und gab es in unsere Hände. Er erhörte die Gebete seines Dieners.« Tatsächlich war der Feldzug zu der Tatarenstadt im östlichen Wolga-Gebiet in manchem einem mächtigen Kreuzzug vergleichbar. Nicht nur wurden den Truppen Ikonen vorangetragen, sondern Ivans eigenes Kruzifix, das einen Splitter des wahren Kreuzes enthielt, wurde aus Moskau gebracht; Priester sprengten Weihwasser im Lager gegen das schlechte Wetter, das die Belagerung erschwerte.
    Boris zweifelte keinen Augenblick am Zaren, und für ihn stand fest, daß Moskau dazu ausersehen war, die christliche Welt zu führen. Ein neues Zeitalter war angebrochen. Das herrschende Konstantinopel war in die Hände der Türken gefallen. Die Sophien-Kirche war nun Moschee. Die russische Kirche hatte geduldig gewartet, daß der griechische Patriarch seine frühere Autorität wiedererlangen würde, doch er blieb weiterhin eine Marionette des türkischen Herrschers. Im Lauf der Jahre wurde es deutlich, daß der Metropolit in Moskau praktisch der wahre Führer der östlichen Orthodoxie war.
    Ein Herrscherschicksal. Der Großvater des jungen Zaren, Ivan der Große, hatte eine Fürstin aus dem ehemaligen Kaisergeschlecht von Konstantinopel geheiratet; von diesem Tag an hatte die russische Herrscherfamilie stolz den doppelköpfigen Adler – das Herrscherwappen der gefallenen römischen Stadt – in ihr Wappen aufgenommen.
    Boris blickte voller Bewunderung auf die hohe Gestalt neben sich. Nachdem der Zar längere Zeit in Gedanken versunken geschwiegen hatte, seufzte er. »Rußland steht ein großes Schicksal bevor, doch ich habe innerhalb meines Landes noch gegen sehr viel mehr zu kämpfen als draußen.«
    Boris wußte, wie die kühnen Fürsten Sujskij ihn als Knaben gedemütigt hatten, wie sie und andere versucht hatten, das Werk der bedeutenden Moskauer Dynastie zu zerstören und den Zaren durch Magnaten abzulösen. Boris wußte auch, wie fünf Jahre zuvor bei dem furchtbaren Brand in Moskau der Mob Ivans polnische Familie mütterlicherseits dafür verantwortlich machte, seinen Onkel aus der HimmelfahrtsKathedrale zerrte und niedermetzelte. Sie hatten sogar gedroht, Ivan umzubringen. Dessen Feinde versuchten seine zahlreichen Reformen zu verhindern.
    Nun also wandte der junge Zar sich an ihn, Boris Bobrov, der nur einen armseligen kleinen Besitz in Russka hatte, und sagte leise: »Ich brauche Männer wie dich.« Und schon war er verschwunden. Boris flüsterte erregt: »Ich gehöre dir«, und er fügte den furchtgebietenden Titel dazu: »Gosudar« – Allherrscher. So stand er, zitternd vor Erregung, bis endlich das schwache Frühlicht im Osten erschien.
    Auf der ganzen Bootsfahrt die Wolga hinauf war Boris beschäftigt mit den erregenden Gedanken, wohin die Begegnung mit dem jungen Zaren führen würde. Würde sie seiner Familie Glück und Ruhm bringen?
    Boris, Davids Sohn, mit Zunamen Bobrov. Die Namengebung hatte sich innerhalb der letzten Generationen verändert. Niemand außer den Fürsten und den höchsten Bojaren gebrauchte die volle Ableitung aus dem Namen des Vaters, die auf -vitsch endete. Zar Ivan, zum Beispiel, hieß Ivan Vasilevitsch. Er jedoch, ein niederer Adliger, war nur Boris Davidov – nicht Davidovitsch. Um seine Identität noch mehr zu unterstreichen, konnte ein Russe zu diesen beiden Namen einen dritten hinzufügen, üblicherweise den Namen, unter dem sein Großvater am bekanntesten war. Manchmal war es der Taufname des Großvaters, etwa Ivan, und so wurde der dritte Name zu »Ivanova« oder einfach zu

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