Russka
Behörden in Haft genommen.« Er blickte Wilson ernst an. »Die einflußreichsten Personen standen dahinter.«
»Und warum?«
»Glaubst du denn, mein Freund, daß der Livländische Orden, der viele der baltischen Häfen kontrolliert, ein Interesse daran hat, Ivans Position zu stärken? Denkst du, daß Litauen oder der König von Polen, oder der deutsche Kaiser wollen, daß Rußland stärker wird als ihre Länder?« Er blickte auf dem Marktplatz umher. »Sieh dir diese Leute an«, fuhr er fort. »Sie sind rückständig. Sie haben zwar eine große, aber schlecht ausgebildete Armee. Wenn sie versuchen, sich der baltischen Häfen zu bemächtigen, werden sie von den überlegenen Schweden oder Deutschen sofort zurückgeschlagen. Deshalb ist Zar Ivan auch so froh, daß ihr hier seid. Ihr seid über den äußersten Norden zu uns gekommen. Es ist ein langer, beschwerlicher Weg, aber auf diese Weise kann er das Baltikum umgehen und die Fachleute bekommen, die er braucht.« Was George bei aller Begeisterung beunruhigend fand, war nicht die Gewalt, die Grobheit der Menschen, sondern die Übermacht der orthodoxen Kirche. Überall sah man Priester und Mönche. Wilson war, wie die meisten seiner Landsleute, protestantisch. Diese Leute hier sind Dummköpfe, war seine Ansicht. Doch das dachte er ja von fast allen Menschen.
Als Chancellor im Januar mitteilte, daß er nach ihrer Rückkehr nach England im Frühjahr eine weitere Expedition nach Muscovia leiten werde, beschloß Wilson, sich ihm wieder anzuschließen. Er wollte hier zu Geld kommen. Außerdem hatte der deutsche Kaufmann, ebenfalls Protestant, eine unverheiratete Tochter – und keinen Sohn. Das Mädchen war vielleicht ein bißchen schwerfällig, doch ganz ansehnlich. Wilson fand sie passabel, und er wollte zurückkommen.
In drei Jahren schlugen die russischen Armeen unter Führung Kurbskijs und anderer die Tatarenrevolten bei Kazan nieder. Sie zogen weiter über die östliche Wolga in das Land der Nogajs. Selbst der ferne Tataren-Khan von Westsibirien hinter dem Ural erkannte Ivan als Oberhaupt an. Zweimal wurden große Truppenverbände die Wolga abwärts entsandt, dann durch die Steppe in die verlassenen Länder um Astrachan, und auch diese Stadt wurde genommen. Zar von Kazan und Astrachan – sehr fremd klangen die beiden Titel. In den neu verfaßten Chroniken wurden der Zar und seine Familie verherrlicht. Ivan hätte nun am liebsten den mächtigen KrimKhan geschlagen, doch vorläufig war er dazu nicht imstande. Also versuchte er mit dem sogenannten Livländischen Krieg die Tore seines Binnengefängnisses zu öffnen, seine Nachbarn im Norden zu schrecken, jene reichen Häfen an den baltischen Küsten, die er so dringend benötigte. Zunächst schien er auch Erfolg zu haben. Kein Wunder, daß Elena wenig von ihrem Mann zu sehen bekam. Boris führte das Leben eines Gefolgsmannes – ein hartes Leben. Oft gab es wenig zu essen. Sengende Hitze oder schreckliche Kälte – das war sein Los. Als abgehärteter Mann kehrte er aus Astrachan zurück, brachte bescheidene Beute mit, ein paar Rubel wert, mit denen er einen Teil seiner Schulden tilgte. Seine Beziehung zu Elenas Vater, die nie eng gewesen war, kühlte weiter ab. Der Grund lag nicht im persönlichen Bereich, denn Dmitrij war durchaus erfreut über die Karriere seines Schwiegersohnes, sondern im politischen. Es fing nach Boris' Rückkehr aus Astrachan an. Elena empfand, daß er hochgestimmt war. Während die Armee die Steppe und Wüste an der Wolga unterwarf, hatte Ivan mit seinem engsten Rat einen anderen Sieg an der Heimatfront errungen: die Reform des Reiches.
Wieder einmal war Ivan, in Übereinstimmung mit den Zentralisierungsideen des Zeitalters, entschlossen, die Magnaten und ihre Vasallen zur Strecke zu bringen. Es wurde verfügt, daß alle Landpächter, ob es sich um Dienstgut, pomeste, oder um privat ererbte votschina handelte, dem Zaren bei Aufforderung Militärdienst zu leisten hatten.
»Das wird diese Faulpelze lehren, wer der Herr ist«, äußerte Boris grimmig vor seinem Schwiegervater. »Weißt du, daß die Hälfte der Landpächter in Iver niemandem Dienst taten?«
»Dann erkläre mir«, war die eisige Erwiderung, »was genau der Unterschied zwischen deinem ererbten Besitz und einer einfachen pomeste ist.«
»Es gibt einen rechtlichen Unterschied; praktisch gesehen, da hast du allerdings recht, existiert keiner. Wenn du nicht dienst, nimmt dir der Zar deinen Besitz ab.«
»Und das findest du in
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