Ruth
Tobs Augen folgten Ruths anmutiger Gestalt,
bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. „Gib der Moabiterin das Zimmer
nach Sonnenaufgang“, fügte er leise hinzu.
Ada stutzte überrascht und warf
ihm einen wütenden Blick zu. „Das ist dein Zimmer!“
„Ich werde es nicht benützen.
Wenigstens nicht für einen oder zwei Tage.“
„Aber sie ist eine Moabiterin!
Eine Heidin! Dein Zimmer wird unrein werden.“
„Ich danke dem Allerhöchsten,
daß ich ohne Vorurteile bin.“ Tob faltete die Hände über seinem Bauch und
richtete seinen Blick zur Decke. „Vollkommen ohne Vorurteile“, wiederholte er,
warf seine Lippen auf und nickte voll Befriedigung über seinen eigenen Wert.
3
Kaum eine Stunde war vergangen,
nachdem Tobs Haus und die Stadt darum herum sich für die Nacht zur Ruhe begeben
hatten, als Ruth ein Geräusch vernahm, das sie beinahe erwartet hatte: das
Knarren einer Tür, die im Dunkeln heimlich geöffnet wurde. Sie hatte Noëmi
nicht verlassen wollen, aber als Ada darauf bestand, es sei der Wunsch ihres
Herrn, daß Ruth seine eigene Kammer haben sollte, konnte sie es nicht ablehnen,
ohne undankbar gegenüber Tob zu erscheinen, der sie aufgenommen hatte. Außerdem
wollte sie auf keinen Fall den Zufluchtsort aufs Spiel setzen, den Noëmi in
diesem schönen Heim ihres nächsten Verwandten gefunden hatte, denn ihre
Schwiegermutter war alt und schwach und benötigte Nahrung und Unterkunft viel
mehr als Ruths kräftiger junger Körper.
Sie hatte jedoch das erwachende
Interesse in Tobs Augen nicht übersehen, als er ihre Schönheit entdeckt hatte.
Und sie hatte beinahe seine Gedanken lesen können, als er das Zeichen auf ihrer
Stirn bemerkte und seine Bedeutung erkannte.
Wieder war das leichte Knarren
zu hören. Ruth strengte ihre Augen in der Dunkelheit an und sah einen schwachen
Lichtstreifen am Türrahmen schimmern, der von einer Lampe, die draußen im Flur
brannte, herrührte. Sie wußte, jemand hatte die Tür geöffnet und lauschte
jetzt, um sicher zu gehen, daß sie schlief. Auch über die Identität des
Besuchers gab es keinen Zweifel.
Mit einer raschen Bewegung trat
Tob ein und schloß die Tür hinter sich. Er trug eine kleine brennende Kerze,
die er in einen Halter neben der Tür steckte, so daß sie den Raum schwach
beleuchtete.
„Verlaß dieses Zimmer!“ Ruth
setzte sich auf und zog die Decke mit einer Hand über sich. Notgedrungen mußte
sie dabei einen Arm und eine Schulter unbedeckt lassen, denn sie trug nur ein
Hemd. Zorn und Verachtung gaben ihr jedoch eisige Selbstbeherrschung.
Tob näherte sich ungerührt dem
Bett, als ob er sich seiner freundlichen Aufnahme sicher wäre.
„Hast du keinen Anstand?“ stieß
Ruth heftig hervor. „Ich bin ein Gast in deinem Haus.“
Er setzte sich zu ihren Füßen,
und als sie diese instinktiv anzog, rückte er näher. „Wie schön du bist“, sagte
er heiser. „Die Frauen von Juda sind nicht wie du.“ Er streckte seine Hände
aus, um ihre nackte Haut zu berühren, aber Ruth zog sich schnell zurück.
„Willst du, daß ich die Leute
im Haus wecke?“ fragte sie.
Tob zuckte die Achseln. „Wer
würde dich hören? Und wer würde es wagen zu kommen, wenn sie dich hörten? Ich
bin hier der Herr.“
„Noëmi...“
„Sie ist zu weit weg. Und sie
ist nur eine alte Frau.“ Er rückte näher. „Ihr Frauen von Moab seid berühmt für
eure Großzügigkeit“, fuhr er schmeichelnd fort. Tob stürzte sich plötzlich auf
sie, packte sie bei den Schultern und zwang sie zurück auf das Bett. Seine
dicken feuchten Lippen geiferten über ihren Nacken und ihre Schulter.
Angewidert suchte Ruth ihn wegzustoßen, aber er war stärker und drückte sie
immer wieder auf das Lager zurück, bis sie in ihrer Verzweiflung sein Gesicht
mit den Fingernägeln blutig kratzte.
Tob fluchte und ließ sie los.
Ruth nutzte diesen Augenblick, um vom Bett zu springen und zu dem Stuhl zu
laufen, über den sie ihr abgetragenes Kleid gelegt hatte. Seit sie Heschbon
verlassen hatten, trug sie einen kleinen juwelenbesetzten Dolch — ein Geschenk
von Machlon — in der Tasche ihres Kleides. Danach suchte sie, während Tob sich
unter leisem Fluchen vom Bett erhob und auf sie zukam.
Schon hatte er sie fast
erreicht - lieblich und hilflos in dem weißen Hemd, das ihre einzige Bekleidung
war — , als es ihr gelang, die schmale Klinge aus der Scheide zu ziehen. Ruth
umklammerte den Dolch mit ihrer rechten Hand und versuchte, mit ihrer Linken
das
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