Ruth
Bewohner der
Mauer zu arm. Nur wenige in der Stadt konnten sich Diener leisten.
Ruth und Noëmi stolperten aus
Tobs Haus durch die Dunkelheit und fanden endlich ihren Weg durch das Tor zum
öffentlichen Brunnen, der für den größten Teil der Stadt das Wasser lieferte.
Dort sanken sie erschöpft auf eine Bank unter dem Schutzdach, das den Brunnen
überdeckte, ermüdet von dem langen Weg am Tage zuvor und Ruths schrecklichem
Erlebnis im Hause Tobs. Durch seinen Versuch, ihr Gewalt anzutun, hatte Ruth
völlig den Mut verloren und konnte sich nicht beruhigen, bis Noëmi sie an sich
zog und die jüngere Frau in den Schlaf tröstete.
Ein herumstreunender Hund stieß
mit der Schnauze an ihre Knöchel und weckte sie. Ruth setzte sich auf, sie rieb
sich die Augen noch halb im Schlaf und wußte nicht, wo sie war.
Doch dann kam sie zur
Besinnung. „Du hättest mich nicht an deiner Schulter schlafen lassen sollen,
Noëmi“, sagte sie vorwurfsvoll. „Ich weiß, wie müde auch du sein mußt.“
„Nach dem, was geschehen war,
hattest du die Ruhe nötiger als ich.“
„Hat er uns verfolgt?“
Noëmi schüttelte den Kopf. „In
Israel gibt es Gesetze, Ruth, strenge Gesetze. Tob wird es nicht wagen, sich
uns in der Öffentlichkeit entgegenzustellen. Du brauchst dich nicht mehr vor
ihm zu fürchten, es sei denn...“
„Es sei denn, er will mich zur
Frau?“ fragte Ruth, und ihre Augen wurden groß vor Angst. „Er drohte gestern
nacht damit.“
„Ich kenne Tob seit langem“,
sagte Noëmi ruhig. „Er ist ein Schwätzer. Wenn er dich belästigt, gehen wir vor
den Rat und beschuldigen ihn der unerlaubten Begierde.“
„Aber nach eurem Gesetz kann er
mich immer noch als seine Frau fordern.“
„Darüber werden wir uns Sorgen
machen, wenn es soweit ist“, sagte Noëmi. „Ich habe dich nicht nach Juda
gebracht, um dich so einem wie Tob zu überlassen.“
Ruth ging hinüber zum Brunnen
und schöpfte Wasser für Noëmi. Erst als ihre Schwiegermutter getrunken hatte,
füllte sie sich selbst einen Becher. Dann goß sie Wasser in ein Steinbecken
neben dem Brunnen und entfernte den groben Schal, der ihr Haar und den größten
Teil ihres Gesichts verdeckt hatte, und wusch sich Wangen und Augen.
Keine von beiden bemerkte die
alte Frau, die aus einer der Hütten an der Mauer getreten war und sich dem
Brunnen näherte. Sie war klein und runzlig, ihr Haar ungekämmt, und an ihrem
Mund klebten noch Reste der Speisen, die sie am Abend zuvor zu sich genommen
hatte. Sie hatte einen sonderbar schlurfenden Gang, ihre Augen blickten wild,
während sie in einer Art Singsang ein Selbstgespräch führte, das bis auf
einzelne Wörter unverständlich blieb. Die Frau war offensichtlich
geistesgestört, in den Dörfern kein seltener Anblick, wo die Irren frei
umhergehen konnten, solange sie keinen besonderen Schaden anrichteten.
Die Alte war nur wenige Meter
von Ruth entfernt, als diese ihr Gesicht vom Becken hob und ihre Haut mit einer
Ecke des Schals zu trocknen begann. Als die funkelnden Augen der Irren das
kleine runde Mal entdeckten, das auf Ruths Stirn eintätowiert war, verzerrte
sich plötzlich ihr Gesicht vor Zorn. Sie erhob ihre Hände, die Finger mit den
langen schmutzigen Nägeln wie Krallen gebogen, und kam auf Ruth zu.
„Moabiterin!“ kreischte sie. „Die Moabiter haben meinem Sohn Cheb die Hand
abgehackt!“
Ruth trat zurück und hielt ihre
Hände instinktiv in die Höhe, um sich vor der abscheulichen Kreatur zu
schützen. Aber der wahnsinnige Zorn der Frau legte sich so schnell, wie er
aufgeflammt war. Er wurde von einem verschmitzten Lächeln abgelöst, das die
abgebrochenen Stümpfe ihrer Zähne zeigte.
„Aber jetzt sind die Moabiter
seine Freunde“, sagte sie und kicherte, als ob sie sich über ein Geheimnis
freute, das nur sie kannte. Brummelnd nahm sie einen Becher Wasser und trank
geräuschvoll.
Eine schlanke junge Frau hatte
sich dem Brunnen genähert. Sie trug einen irdenen Krug auf ihrer Schulter. „Geh
deiner Wege, Ola“, sagte sie, als ob sie mit einem Kind spräche. Die Irre
spuckte nach ihr und entfernte sich, noch immer vor sich hin lallend.
„Sie ist harmlos“, erklärte die
junge Frau Ruth und Noëmi, während sie Wasser zu schöpfen begann, um ihren Krug
zu füllen. „Ihr Sohn Cheb wurde vor Jahren von den Moabitern gefoltert; sie
haben ihm die Hand abgehackt. Seit dieser Zeit ist sie nicht mehr bei Verstand.
Mein Name ist Rachel“, fuhr sie höflich fort. „Ihr müßt hier fremd sein,
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