Rywig 01 - Bleib bei uns Beate
doch immerhin ein Lächeln.
„Du wirkst so komisch erwachsen, wenn du ,mein Junge’ sagst.“ „Hab ich das gesagt? Es kam mir wohl so ganz natürlich. Ich werde es nicht wieder tun.“
„Das kannst du doch aber ruhig. Ich - ich finde es so nett.“
„Bernt, ich komme erstens einmal, um dir zu berichten, daß wir Besuch bekommen haben - was allerdings im Augenblick nicht so wunderbar paßt.“
„Wen denn?“
„Eure Tante Julie.“
„ Was sagst du da? Tante Julie? Ja, die hat uns gerade noch gefehlt. Wieso erscheint die denn plötzlich hier?“
„Das möchte ich auch gern wissen.“
Jetzt ging die Tür. Wir drehten uns beide um. Es war Dr. Rywig. Er war ganz gefaßt, kam leise ins Zimmer. Seine Augen ruhten auf Bernt, dann blickten sie im Zimmer umher, auf den Schreibtisch, wo die zerfetzten Fotos und zerknitterten Herbariumbogen rundum verstreut lagen.
Er legte Bernt eine Hand auf die Schulter.
„War das der Grund, Bernt?“
„Ja“, antwortete Bernt leise. Der Doktor ließ seine Augen über das Werk der Vernichtung schweifen.
Seine schmalen, sehnigen Chirurgenhände suchten auf dem Schreibtisch herum. Da tauchte unter all dem Zerrissenen ein unbeschädigter Bogen auf, mit Bild und Blüte und vorbildlicher Schönschrift. Er sah Bernt an.
„Das tut mir leid, mein Junge. Furchtbar leid tut mir das. Wir wollen hinterher in Ruhe miteinander reden. Hat Beate dir erzählt, daß wir Besuch bekommen haben?“
„Ja.“
„Du verstehst wohl, wir müssen alle unsere Wohlerzogenheit aufbieten und Tante Julie beim Abendessen nett unterhalten. Sie ist auf der Durchreise, sie muß ihre Kur eine Weile unterbrechen und fährt zu Tante Mathilde. Sie fährt mit dem Abendzug weiter. Ich muß nach dem Essen noch in die Klinik, einen Kranken besuchen, dann nehme ich Tante Julie gleich mit an den Zug. Willst du mitkommen, Bernt? Wenn wir Tante Julie wohlbehalten auf dem Bahnhof abgeliefert haben, können wir auf dem Rückweg vielleicht mal von Mann zu Mann miteinander reden.“
„Ja“, sagte Bernt, und in seinen Augen schimmerte etwas wie Freude auf. „Das - das kannst du dir doch denken, daß ich gern mit will.“
Ich mußte im stillen lächeln. Niemals waren die Kinder so süß zu mir gewesen wie an diesem Abend. Und ich hatte eine teuflische kleine Freude daran, die Zwillinge sooft wie möglich bei ihren Namen zu nennen und zu zeigen, daß ich sie unterscheiden konnte.
„Beate“, sagte Senta, und ihre Stimme klang so brav, daß es einfach niederträchtig war, „darf ich heute abend im Bett bitte, bitte, noch etwas lesen? Eine halbe Stunde nur. Ich habe nämlich so ein wahnsinnig spannendes Buch.“
Diese Rübe! Bisher hat sie niemals um Erlaubnis gefragt, ob sie im Bett lesen dürfe, im Gegenteil, ich mußte immer aufpassen wie ein Schießhund, daß sie es nicht tat. Aber ich war gerührt, daß sie auf diese Weise ihren Respekt vor mir kundtat - auch wenn in ihrem Herzen nicht ein Quentchen davon vorhanden war.
„Wollen wir uns auf halbem Weg entgegenkommen und sagen, eine Viertelstunde?“ entgegnete ich. „Das heißt, wenn Papa es dir gestattet.“
Ich sah, wie Tante Julie die eine Augenbraue bewegte, und ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Senta es auch sah.
Ich merkte, daß Sonja ebenfalls dasaß und darauf brannte, irgend
etwas zu demonstrieren. Ich kam ihr freundlichst zu Hilfe.
„Du brauchst das Fette von dem Schinken nicht zu essen, Sonja. Ich weiß, es ist dir zuwider, und wir können ein bißchen Fett für das Vogelbrett gerade gut gebrauchen.“
„Oh, vielen Dank, das ist fein!“ sagte Sonja. Nein, man höre sich das bloß an, wie ihre Stimme von meiner unbedingten Autorität Zeugnis ablegte!
Tante Julie bewegte die andere Augenbraue.
Da begegnete ich dem Blick des Doktors. Seine Augen hinter den Brillengläsern funkelten von tausend kleinen Schelmen. Plötzlich hatte ich die größte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken.
Als wir vom Abendbrottisch aufgestanden waren, kamen die Zwillinge zu mir und umschlangen mich ganz schnell einmal, um sich für das Essen zu bedanken. Auch das war etwas Neues. „Ihr Ruppsäcke“, flüsterte ich ihnen ins Ohr. Aber sie meinten es mit ihrer Umarmung ehrlich. Ich brachte den Kaffee. Bernt sprang auf und hielt mir die Tür auf, und er half mir auch, die Tassen herumzustellen.
„Was bekommen wir, wenn ihr Kaffee trinkt, Beate?“ fragte er, und seine Stimme klang froh und zutraulich.
„Aha, du willst auch was Gutes haben, du
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