Rywig 01 - Bleib bei uns Beate
Schlingel? Lauf in den Keller und hol ein Glas Schattenmorellen herauf - aber von den kleinsten, bitte.“
„Vielleicht finde ich nur große?“ lachte Bernt. Ja, er lachte wirklich. Obwohl die Enttäuschung über seine vernichtete Wettbewerbsarbeit in ihm wühlen mußte, lachte er. Er lachte, um Tante Julie zu zeigen, wie gut wir es zusammen hatten. Seine ganze Loyalität mir gegenüber offenbarte sich in diesem Lachen.
„Du bist ein Schlingel, Bernt“, sagte ich und packte seinen Haarschopf. „So, hinunter mit dir und vergiß nicht, das Licht hinter dir auszumachen.“
Es herrschte kein Zweifel. Tante Julies Augenbrauen bewegten sich beide gleichzeitig.
Sie erkundigte sich, wie es Hansemann gehe, und der Doktor antwortete: „O danke, ausgezeichnet, er wächst und entwickelt sich, er fängt an, ein richtiger Junge zu werden.“ Tante Julie bedauerte, daß sie ihn nicht zu sehen bekomme, und der liebe Neffe antwortete: „Ja, das ist schade, aber Hansemann schläft fest und tief. Da er jetzt mittags nicht mehr hingelegt wird, geht er freiwillig früh zu Bett, zieht sich allein aus und putzt sich die Zähne und ist eingeschlafen,
ehe man noch bis zehn gezählt hat.“
Du Schurke, dachte ich. Du hast ja keine blasse Ahnung von Hansemanns abendlichem Rhythmus. Aber er wollte wohl hinter seinen scheinheiligen Kindern nicht zurückstehen, der Heuchler!
Dann mußte Tante Julie aufbrechen. Bernt half ihr höflich in den Mantel und wünschte ihr gute Reise. Ich verabschiedete mich mit einem Händedruck von ihr, und beide Zwillinge standen dicht an mich gedrängt mit Besitzermiene und stolzem Lächeln.
„Ja, es hat mich gefreut zu sehen, daß es euch so gut geht“, sagte Tante Julie.
Da tat sie mir plötzlich ganz schrecklich leid. Die schmale, schwarzgekleidete Gestalt sah mit einem Male so einsam und armselig aus.
Und ich fühlte mich so reich, hier mitten zwischen den drei Prachtkindern und dem Mann, der ebenfalls so grundanständig zu mir war.
„Es ist bei solchen Kindern wirklich nicht schwer, sich wohlzufühlen, Fräulein Rywig“, sagte ich. „So wohlerzogene Kinder habe ich nie erlebt, und ich bin mir völlig darüber klar, daß das Ihr Werk ist. Sie haben sich die letzten fünf Jahre damit gemüht. Für mich war es eine Kleinigkeit, das hier zu übernehmen - sowohl die Kinder mit dem guten Benehmen als auch den tadellosen Haushalt.“
Da hellte sich Tante Julies Miene auf, sie strahlte über das ganze Gesicht. Ich war froh, daß ich das gesagt hatte. Ich konnte es mir leisten, denn ich war ja so reich! So unendlich reich!
Frühlingssonne im November
Es wurde spät, bis der Doktor und Bernt wiederkamen.
Ich hatte die Zwillinge ins Bett verfrachtet, und nun saß ich vor dem Kamin im Wohnzimmer mit dem unglückseligen Bären auf dem Schoß. Ich hatte das Gefühl, daß ich mit meinen Nähkünsten hier weiterkommen würde als der Doktor mit seiner chirurgischen Geschicklichkeit. Ich mühte mich und stichelte und nähte den Schlitz auf dem Bauch zu und brachte Arme und Beine wieder an Ort und Stelle. Dann tauchte ich tief in Tante Julies hinterlassenen, musterhaft geordneten Lumpenbeutel hinein und suchte ein Stück leuchtend roten Stoff hervor. Aus diesem bastelte ich eine Jacke für Teddy, die die Narben auf seinem Rumpf verdecken sollte.
Hin und wieder warf ich einen Blick auf das Feuer im Kamin und stellte mit Freude und Befriedigung fest, daß die letzten Überreste des Rohrstockes allmählich verkohlten.
Endlich hörte ich den Wagen. Ich steckte den Bären schnell unter ein Sofakissen und nahm das Strickzeug zur Hand. Bernt sollte nicht sehen, was ich vorhatte.
Dann kamen sie. Vater und Sohn.
Ruhig, gelassen, ausgeglichen. Und wieder fiel mir die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Die klaren, klugen, dunkelgrauen Augen. „Na, sind Sie noch immer auf, Beate?“
Ehe ich noch antworten konnte, lachte der Doktor kurz auf und machte plötzlich ein verlegenes Gesicht.
„Sie müssen entschuldigen, Fräulein Hettring. Es sind die Kinder, die mich anstecken, und dann vergesse ich mich und nenne Sie auch Beate.“
„Das macht doch nichts, Herr Doktor. Ich finde es nur nett. Die formelle Anrede können Sie sich aufheben für den Fall, wenn Besuch kommt.“
„Tante Julie zum Beispiel?“
„Ja, Tante Julie zum Beispiel.“
„Ich sollte grüßen. Und übrigens, vielen Dank, daß Sie so reizend zu ihr waren. Es hat ihr ordentlich gutgetan.“
„Nun, ich meinte es ehrlich. Ihre Tante hat
Weitere Kostenlose Bücher