Rywig 01 - Bleib bei uns Beate
und sie hatte Mutti das Muster von Lieselottchens Jäckchen versprochen.
Die Kinder waren wieder hinausgeschickt worden, diesmal sicherheitshalber ohne Schaufeln. Mutti war hinaufgegangen, um das Rezept aufzuschreiben, und Frau Erlestad und ich blieben einen Augenblick allein.
„Fräulein Hettring“, sagte Frau Erlestad. „Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muß, es muß raus, sonst platze ich, und wenn Sie mich auch für furchtbar taktlos halten. Ich möchte Ihnen nur sagen, es ist ein wahrer Segen, daß Sie in dies Haus gekommen sind. Wir haben ja in letzter Zeit ab und zu die fröhlichen und munteren Stimmen gehört, und wir haben beobachtet, wie die Zwillinge rausrennen und Sie am Gartentor erwarten, wenn Sie nach Hause kommen. Wissen Sie, Rywigs Kinder haben uns immer furchtbar leid getan. Die alte Tante war bestimmt die Vorzüglichkeit in Person, aber wie sie mit den armen Kindern umgesprungen ist - du darfst dies nicht und du mußt das lassen, mach nun artig einen Diener und mach einen schönen Knicks und tritt dir die Füße ab und so weiter - aber das war nicht das schlimmste. Man soll nur Gutes über die Toten reden, ja, ich weiß, so heißt es, aber - Frau Rywig war so unfreundlich und so wenig umgänglich, wie man es sich gar nicht vorstellen kann, und wir Nachbarn zogen uns von ihr zurück. Wir wollten nichts mit ihr zu tun haben, sie allerdings auch nicht mit uns. Und da ist es wirklich wunderbar zu sehen, wie die Kinder sich in der letzten Zeit herausgemacht haben. So, darauf brauchen Sie nichts zu antworten, aber ich wollte es doch sagen, und dann fände ich es furchtbar nett, wenn ich mich eines Tages, so bald es Ihnen paßt, für diese Teestunde revanchieren könnte. Ich bin von zu Hause gute nachbarliche Beziehungen gewöhnt...“
„Ach, ich auch!“ sagte ich.
„Wie nett“, sagte Frau Erlestad. Dann kam Mutti mit dem Waffelrezept.
Am Nachmittag tranken wir Erwachsenen Kaffee vor dem Kamin. „Wo sind eigentlich unsere beiden Jüngsten?“ fragte Dr. Rywig.
„In meinem Zimmer“, sagte ich. „Jeder mit einer stumpfen Schere bewaffnet, und jeder mit einem Haufen alter Illustrierten mit vielen Bildern drin.“
„Und die Zwillinge? Und Bernt?“
„Die Zwillinge haben sich ganz überlegen über die
Schulaufgaben hinweggesetzt, sie sollten längst zu Hause sein. Heute dürfen Sie sie aber bestrafen, Herr Doktor, ich bin froh, wenn ich es nicht brauche. Bernt sitzt in seinem Zimmer, er hat irgend etwas Wichtiges vor. Ach übrigens: Bernt! Ich wollte fragen, ob ich nicht sein Geburtstagsgeschenk jetzt schon von Ihnen haben könnte, damit ich es ihm auf den Geburtstagstisch stellen kann. Mutti und ich wollten den schon heute abend aufbauen, wenn die Kinder im Bett sind.“
„Ja“, sagte der Doktor. „Offengestanden, ich hatte eigentlich vor, Bernt Geld zu schenken, und dann habe ich noch eine Kleinigkeit für ihn, aber die kann man nicht auf den Tisch legen.“
Der Doktor ging ins Arbeitszimmer und kam mit einem Briefumschlag zurück. „Für meinen Sohn und Kameraden Bernt“ -stand außen darauf.
Ich nahm den Umschlag an mich, ich wollte gerade etwas sagen
- aber da ging hinter mir die Tür auf.
„Du lieber Gott!“ stöhnte der Doktor auf.
„Was in aller Welt - “, rief Mutti.
„Ach du Schreck“, japste ich. Denn in der Tür stand Heidi mit Rattenschwänzen und einer unendlich stolzen und wichtigtuerischen Miene - und neben ihr Hans Jörgen, vormals Hansemann.
Ja, nun war endgültig Schluß mit dem süßen Kosenamen, das sah ich sofort. Denn das Wesen, das dort neben Heidi stand, forderte in keiner Weise zu Kosenamen heraus.
Wo ehemals Hans Jörgens Engelslocken in einem weichen goldblonden Schwall den Kopf umrahmt hatten - dort waren nur hier und da Zotteln zu sehen, mit denen Heidis stumpfe Papierschere nicht hatte fertig werden können. Zwischen den Zotteln ein höchst holpriges Stoppelfeld. An einigen Stellen schimmerte die Kopfhaut zwischen den Haarzotteln hervor.
Ich hatte das Gefühl, daß Heidi es einzig und allein ihrer Operation verdanken konnte, wenn Mutti sie nicht mit fester Hand beim Wickel nahm und mit ihr nach oben ging, um sie in einer Art zu strafen, die in genauem Gegensatz zu den Lehren der modernen Kinderpsychologen gestanden hätte. Aber Heidi war nun mal frisch an der Nase operiert und einem solchen Kind fügt man anstandshalber keinen Schmerz zu, nicht einmal am entgegengesetzten Körperteil.
„Kommt her, ihr beiden“, sagte der Doktor.
Sie
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