Rywig 03 - Meine Träume ziehn nach Süden
auf die meine, aber nur eine Sekunde lang.
„Wie haben Sie es bloß geschafft, schon zweimal herzukommen?“ fragte ich.
Heiko lachte.
„Das frage ich mich auch! Voriges Jahr suchte ich mir die allerbilligste Gruppenreise aus, die überhaupt angeboten wurde - ich mußte wohl oder übel eine Woche am Strand mitnehmen, die Reisen sind nun mal fertig zugeschnitten und sozusagen in Standardpackungen. Sehr schön war es nicht, denn ich war verflixt knapp bei Kasse, konnte mir zum Beispiel keine Extra-Ausflüge leisten, und die armen waiters kamen in puncto Trinkgeld schlecht weg. Aber - ich kam nach Serengeti. Ich war im Ngorongorokrater. Ich war in Seronera. Ich habe die Massai gesehen. Ich habe etliche tausend galoppierende Gnuhufe über die Erde donnern gehört und einen ganz kurzen Blick in die Zauberwelt werfen dürfen.“
„Und dieses Jahr?“
„Ich hatte es eigentlich aufgegeben. Wenn ich fahren sollte, mußte es während der Semesterferien geschehen. Da kam mir ein freundlicher Zufall zu Hilfe. Ich hatte den ganzen Winter einem Primaner Nachhilfestunden in Mathematik gegeben - ein begabter Bursche in allen anderen Fächern, aber in Mathematik baute er eine Fünf nach der anderen, und er mußte Abitur machen; seine ganze philologische
Zukunft hing davon ab. Na, und was soll ich Ihnen sagen: Er geht ins Abitur mit mathematischen Kenntnissen, die einer Wüste mit ein paar winzigen Oasen glichen. Die Oasen waren die paar Punkte, die ich ihm hatte beibringen können. Und was geschieht? Grade in den Oasen wird er geprüft! Und er kriegt die erste und einzige Zwei seines mathematischen Lebens! Die Eltern waren aus dem Häuschen vor Freude. Sie fielen mir beinahe um den Hals vor Glück und bezahlten mir ein fürstliches Honorar! Und das Beste kommt noch: Vor einer Woche tauchte der Papa des Mathematikers bei mir auf. Ich sei doch afrikainteressiert? Ob ich Lust hätte, eine gebuchte Afrikareise für den halben Preis zu übernehmen? Seine Frau hätte in einem unbedachten Augenblick die Reise gebucht. Nun seien Hindernisse aufgetreten, die nicht von der Reiseausfallversicherung gedeckt wurden. Die ganze Sache für - na ja, ,sagen wir tausend Mark’, meinte der Mann großzügig. Wobei seine Dankbarkeit für die Mathematikzensur bestimmt eine große Rolle spielte! Statt zweitausend vierhundert! Da war es klar, daß ich ja sagte und meine sämtlichen Kröten zusammenklaubte. Dann verkaufte ich meine Filmkamera, damit ich etwas Taschengeld hatte, wusch drei Tage Autos an einer Tankstelle, wo der Lehrling zu meinem Glück die Grippe bekommen hatte - und das Schicksal, das es gut mit mir meinte, schickte einen außergewöhnlich dreckigen Wagen, den ich sogar nach Arbeitsschluß waschen mußte. Der Besitzer war rührend dankbar, er mußte nämlich unbedingt nach Frankfurt. Worauf ich all meine Frechheit zusammennahm und fragte, ob er mich mitnehmen würde. Das wollte er! Es war Freitagabend, ich rannte nach Hause, warf meine Sachen in einen Koffer, schlief ein paar Stunden, küßte die Familie ab und fuhr höchst feudal in einem blitzeblanken Mercedes nach Frankfurt! Übernachtete in einer Jugendherberge, und am folgenden Tag - das war also gestern, es ist kaum zu fassen! - war ich pünktlich und hungrig im Flughafen. Wie hat das Essen im Flugzeug geschmeckt! Und das Frühstück in Nairobi!“ Ich hatte gelauscht mit allen Sinnen. Wir hatten englisch gesprochen. Bedeutete das „you“ nun Sie oder du? „Heiko“, sagte ich. „Ich bewundere dich!“
„Bewundern! Du liebe Zeit! Verstehst du denn nicht, daß all mein Schuften, all mein Büffeln, jede Mathematikstunde, jedes gewaschene Auto, das alles kleine Stufen waren auf der Leiter zu meinem Glück? Man klettert gern ein solche Leiter hoch, auch eine schändlich lange, wenn man nur die Erfüllung seines größten Wunsches auf der obersten Stufe sieht! Seit vier Jahren habe ich diesen
Traum, diesen Wunsch. Ich bin geklettert und immer geklettert, und wenn ich mich jetzt umdrehe und zurückgucke, dann sehe ich, daß ich schon ein ganz langes Stück geschafft habe. Ich wollte Englisch lernen, und ich habe es geschafft. Ich wollte Autofahren können -sogar Lastkraftwagen -, ich habe den Führerschein in der Tasche. Ich wollte Afrikas Geographie und Geschichte kennenlernen - ich bin ein wanderndes Afrikalexikon. Ich verstehe sehr viel von Filmen und Fotografieren, ich habe ja meine Prüfung gemacht - und wenn alles gut geht, mache ich nächstes Jahr mein Staatsexamen
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