Rywig 08 - Sonjas dritte Sternstunde
Schriftzeichen ein Segen für das chinesische Volk sind. Wäre es nicht ein größerer Segen, wenn sie dieselben Buchstaben hätten wie in Europa und Amerika und Australien und.“
„Das Beste wäre natürlich, wenn sie beides könnten“, räumte Mr. Nicol ein. „Aber es ist eine Frage, ob es nicht noch besser für uns wäre, wenn wir ein ähnliches System wie das chinesische hätten. Sehen Sie, China hat eine ganze Unmenge Dialekte, so viele, daß z. B. ein Mann aus dem Norden kein Sterbenswort versteht, wenn ein Südchinese spricht. Aber schriftlich können sie sich immer verständigen! Sie wissen, die Schriftzeichen bedeuten nicht Buchstaben, sondern ganze Begriffe. Wenn wir etwas Ähnliches in der westlichen Welt hätten, wäre ich, zum Beispiel, so ziemlich überflüssig!“
Frau Werner nickte eifrig: „Ja, ich verstehe! Wenn wir alle dieselben Schriftzeichen hätten! Wenn ich dann einen Brief an einen Franzosen schriebe.“
„. würde er ihn verstehen, ohne ein Wort Deutsch zu kennen! Wenn Sie z. B. das Wort ,Kind’ aufs Papier brächten, würde der Franzose das Zeichen als ,enfant’ verstehen, der Italiener würde es als ,bambino’ lesen, der Engländer als ,child’.“
„. ein Norweger, Schwede oder Däne als ,barn’“, ergänzte ich. „Eben! Tatsache ist, daß man hier viel weiter gekommen ist als wir“, sagte Mr. Nicol.
Da kam eine Stimme vom Nachbartisch: „Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht viel Deutsch, aber ich habe das Gefühl, daß Sie über die Zeichenschrift sprechen?“
Es war Mr. Stone, der fragte.
Mr. Nicol gab ihm auf englisch eine kurze Zusammenfassung von dem, was gesagt worden war.
Mr. Stone nickte: „Ja, und wie wird die Schrift wohl entstanden sein? Bestimmt dadurch, daß die Leute vor etlichen tausend Jahren damit angefangen haben, den Begriff, den sie ausdrücken wollten, zu zeichnen! Dann wurden die Zeichnungen allmählich vereinfacht, dann kombiniert, dann stilisiert - bis sie also so aussahen, wie wir sie hier sehen!“
Die eine Schwester Smith stand auf und kam rüber zu uns. „Wissen Sie, daß ich mich so mit Menschen unterhalten kann, deren Sprache ich nicht kenne? Nicht mit Schriftzeichen, sondern mit den Händen!“
„Mit den Händen - denken Sic an die Taubstummensprache?“ „Genau! Ich war nämlich Taubstummen-Lehrerin. Ich bin zu Kongressen im Ausland gewesen, und wenn es mit den Sprachkenntnissen haperte, konnte ich mir oft mit der Zeichensprache helfen.“
Wir baten sie, uns eine Kostprobe zu zeigen.
„Ja, zum Beispiel.“, sie führte die rechte Hand schnell zur Schläfe, wie ein Militärgruß, „das bedeutet Mann.“ Dann legte sie die Hand unter die rechte Brust. „Das ist ,Frau’ - und dies ist das Zeichen für ,Kind’.“ Sie hielt die rechte Hand in Hüfthöhe, mit der Handfläche nach unten.
Mr. Stone nickte, lebhaft interessiert.
„Aber es gibt doch wohl nicht Zeichen für alles? Nicht für ganz seltene Worte?“
„Nein, dann benutzen wir das Fingeralphabet.“
„Dann sind Sie also genauso weit, abhängig von der jeweiligen Sprache.“
„Stimmt. Aber es gibt jedenfalls so viele internationale Wortzeichen, daß ich in keinem Land zu verhungern brauchte, wenn ich nur jemanden fände, der die Taubstummensprache verstünde. Ich könnte ihm jedenfalls ,Wasser’ und ,Brot’ sagen.“
Mr. Stone lachte.
„Das wäre allerdings ein etwas einseitiges Menü, aber immerhin, wenn man am Verhungern ist.!“ Dann wandte er sich zu seiner schönen Frau.
„Ist das nicht interessant, Liebling?“
Sie zuckte die Schultern.
„Wir brauchen uns ja nicht darum zu kümmern. Mit Englisch kommt man überall durch“, sagte sie und las dann weiter in ihrer Illustrierten.
Ich warf einen kurzen, verstohlenen Blick auf sie. Sie sah gar nicht dumm aus, im Gegenteil. War sie vielleicht menschenscheu, oder war sie ganz einfach übermüdet von dem weiten Flug? Dann sollte sie lieber ins Bett gehen und nicht „wie ein versteinertes Gewitter“ wie mein Schwager Rolf sagt, hier herumsitzen!
Es wurde viel zu spät, bevor ich endlich mit dem feinen Fahrstuhl nach oben fuhr.
„Na, du Nachteule“, sagte Tante Helene. Sie lag im Bett und las. „Ihr habt euch wohl gut unterhalten da unten? Hast du was Interessantes zu wissen bekommen?“
„Ja“, sagte ich und zog Sentas Kleid über den Kopf. „Ich habe zu wissen bekommen, daß wir gar keine Sprachprobleme hätten, falls wir so vernünftig gewesen wären wie die Chinesen und die
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