Rywig 08 - Sonjas dritte Sternstunde
unbegreiflichen Schriftzeichen - Autos in Hülle und Fülle, und Menschen, Menschen überall! Ein bunter Ameisenhügel war es - ein heißer, schwüler Ameisenhügel: Ich war Hitze gewohnt, aber nicht diese feuchte, unfrische Hitze. Und so ein merkwürdiger Geruch überall! Auf den Straßen, im Bus, nachher auch im Hotel, ja sogar im klimatisierten Hotelzimmer. Ein fremder Geruch, ein aufdringlicher Geruch, und ganz undefinierbar.
Dann waren wir in einer großen, roten Hotelhalle. Alles war rot, Tische, Stühle, Sofas - rotlackiertes Holz mit roten Bezügen. Rote Läufer und Teppiche, rote Wände - und sogar ein mächtiger Zerberus, der vor dem Eingang stand und nach dem Rechten sah, trug ein kosakenähnliches Kleidungsstück in flammend Rot.
Kleine, dienstbeflissene Hotelpagen in roten Uniformen - hinter einem roten Tresen ein höflicher schlitzäugiger Mann, der Mr. March ein ganzes Bündel Schlüssel aushändigte.
„Mr. und Mrs. Connor - bitte, Nummer elfhundertvierzehn - “, ich warf schnell einen Blick auf das Ehepaar Connor. Brillenträger, Signetring am kleinen Finger - das war er. Blaue Tasche mit E. C. in Goldbuchstaben - das war sie. So hatte ich es gemacht, als ich Reiseleiterassistentin war, mir ein paar Einzelheiten bei jeder Person gemerkt, bis ich alle auseinanderhalten konnte.
„Mrs. Werner und Mrs. Henderson“, - die eine kannte ich, die andere fiel durch ihre außergewöhnliche Länge und ihr mageres Gesicht auf. Die beiden begrüßten sich und zogen von dannen. Ach, wie schön hatte ich es, daß ich nicht mit irgendeinem wildfremden Menschen das Zimmer teilen mußte! Ich wußte, woran ich war!
„Mr. und Mrs. Stone - “, er nahm den Schlüssel, sie saß auf einem roten Sofa und blätterte in einer Illustrierten.
Ihr war jedenfalls nicht die Gabe in die Wiege gelegt, alles Neue bewußt zu erleben und sich darüber zu freuen! Die Ärmste! Sie war um ganz was Schönes betrogen worden.
„Mrs. Robinson und Mrs. Brunner - “, Tante Helene nahm den Schlüssel in Empfang, und ich sammelte unser Handgepäck. Ein junges Mädchen in roter Uniform bediente den Fahrstuhl - sagte ich Stuhl? Der Lift war so groß, daß man eher „Fahrzimmer“ sagen müßte - und ließ uns in der elften Etage aus steigen.
„So!“ sagte Tante Helene. „Da wären wir! Gar nicht übel, was meinst du?“
Das Zimmer war groß, die Betten sahen gut aus, da waren bequeme Sessel und reichlich Tischplatz. Ein großer eingebauter Schrank, und hinter einer kleinen Tür ein pieksauberes Badezimmer.
„Wollen wir knobeln? Wer darf zuerst ins Bad?“
Jetzt sprach sie deutsch. Das war überhaupt so eine Sache mit uns und den Sprachen, manchmal plauderten wir auf englisch, oft deutsch. Jetzt mochte ich es gern, daß Tante Helene mit mir deutsch sprach - obwohl ich wohl Englisch ein bißchen besser konnte. Daß wir eine Sprache für uns hatten, gab mir ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl, daß wir uns gegenseitig gern mochten und es schön fanden, ab und zu allein, ohne Reisegruppe zu sein.
„Geh zuerst, Tante Helene“, sagte ich. „Inzwischen packe ich das Notwendigste aus. Welches Kleid geruhen gnädige Frau heute abend
zu tragen?“
„Das dunkelgrüne, bitte, und die Wildlederschuhe dazu. Übrigens, wenn du so höflich bist, werde ich wohl dein Gehalt verdoppeln müssen!“
„Fang lieber an, mir einen Pfennig pro Monat zu geben“, schlug ich vor. „Von der Verdoppelung werden wir dann nachher öfters sprechen.“
Tante Helene nahm ihren Kulturbeutel und den Morgenrock, dann lächelte sie. „Du hast übrigens erhebliche Fortschritte im Deutschen gemacht“, meinte sie.
„Kunststück! Ich bin doch auf deutsch verheiratet! Immer wenn Heiko und ich allein sind, sprechen wir deutsch. Sonst geht es ja den ganzen Tag auf englisch. Ja, und natürlich Suaheli, wenn unsere eingeborenen Freunde kommen.“
„Und was ist mit deiner Kollegin Kerstin?“
„Ja, mit der spreche ich eine sonderbare Mischung von Norwegisch und Schwedisch. Aber eines sage ich dir, Tante Helene, wenn du uns zusammen mit einem finnischen Ehepaar irgendwo hinschickst, dann streike ich! Finnisch hat fünfzehn Kasus - oder heißt es Kasi?“
„Es heißt jedenfalls Fälle“, sagte Tante Helene. „Gut, ich werde euch dann lieber ein paar eskimoische oder mesopotamische Mitarbeiter verschaffen!“
Mit diesem reizenden Versprechen verschwand sie ins Bad, und ich machte mich ans Auspacken.
Unten im großen, schönen Speisesaal war
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