Rywig 08 - Sonjas dritte Sternstunde
gelernt! Als sie ihr chinesisches Kochbuch bekam, besorgte sie sich auch etliche Paare Eßstäbchen. Aber Vati hatte es zu eilig, Mutti fehlte der Mut, meine Geschwister waren zu hungrig - sie griffen alle zur Gabel, und Senta saß da und sah enttäuscht aus.
Da tat sie mir leid, außerdem war es ja immer so bei uns, daß die eine dasselbe tat wie die andere. Also ergriffen wir beide unsere Stäbchen, trainierten eifrig nach den Anweisungen im Buch - und siehe da, es ging! Nachdem Senta geheiratet hatte, kochte sie sehr oft chinesisch, und jedesmal wenn Heiko und ich sie besucht haben, konnten wir weiter trainieren.
Also ergriff ich jetzt die Stäbchen, sandte schnell ein Stoßgebet zu Konfuzius oder Brahma oder Buddha oder wie er nun hieß, er möge mich davor bewahren, daß die Fleischstückchen mir wieder in den Reis fielen. Der chinesische Gott der Eßkunst mußte mich gehört haben, denn es ging wirklich tadellos.
„Sieh einer an!“ rief Mr. Stone. „Sie können es ja, Mrs. Brunner!“
Ich erzählte, wie ich es gelernt hatte, und die, die das chinesische Essen bestellt hatten, versuchten, es mir nachzumachen. Es gab viel
Gelächter und viele Kleckse auf dem Tisch. Am anderen Tischende fingen sie auch an zu versuchen, und zuletzt lachten alle - nur nicht Mrs. Stone.
„Was ist es eigentlich, was Sie da essen?“ fragte sie.
„Unter anderem Tintenfisch“, erklärte ich. „Und etwas Schweinefleisch ist auch dabei - und Sojabohnenkeimlinge - ja und Ingwer. Kosten Sie doch“, ich hielt ihr die Platte hin. „Es ist ja so reichlich hier.“
Sie lehnte es mit einem Schaudern ab.
„Ich esse nur, was ich kenne“, sagte sie und nahm mit ihrer westlichen Gabel ein Stück Yorkshirepudding zu ihrem englischen Steak.
„Ich bereue, daß ich das Gericht nicht bestellt habe“, sagte das eine Fräulein Smith. „Dabei versuche ich doch sonst immer, die Spezialitäten der verschiedenen Länder kennenzulernen! In Frankreich esse ich Bouillabaisse und in Deutschland Schlachtplatte, in Italien Minestrone und in der Schweiz Käsefondue. Morgen esse ich bestimmt Tintenfisch oder kantonesisches Huhn!“
„Was haben Sie in Kanada gegessen?“ fragte Tante Helene.
„Dicke Eierkuchen mit Marple Syrup zum Frühstück!“ lachte Miß Smith. „Sie schmecken phantastisch gut!“
Von den kulinarischen Erfahrungen glitt das Gespräch auf andere Spezialitäten und Sitten in fremden Ländern, und es wurde allmählich eine sehr fröhliche Tischrunde.
Nach dem Essen zog Tante Helene sich zurück.
„Ich schenke mir den Kaffee“, erklärte sie. „Ich glaube, ich bin bettreif.“
„Soll ich mitkommen, Tante Helene?“
„I wo, trink du deinen Kaffee, komm wann du willst. Schlafen kann ich bestimmt lange nicht, mein Körper hat sich noch nicht auf die neue Uhrzeit eingerichtet. Er glaubt, daß es drei Uhr nachmittags ist! Aber ich freue mich auf die Waagerechte!“
So ging es auch ein paar anderen Gästen. Ich ging mit Frau Werner rüber in das schöne Nebenzimmer, wo der Kaffee serviert wurde. Sie hatte am Tisch sehr wenig gesagt, aber ich hatte das Gefühl, daß sie Englisch ganz gut verstand. Das sagte ich ihr auch.
„Das stimmt“, gab sie zu. „Verstehen ist aber eins, sprechen ist was anderes!“
„Das kommt von selbst, wenn man es muß!“ tröstete ich. „Das weiß ich aus Erfahrung!“
Wir fanden einen freien Tisch, plauderten weiter auf deutsch. Sie erzählte, wie sie zu dieser Reise gekommen sei.
In Australien wohnte ihre Schwester, die sie zwanzig Jahre nicht gesehen hatte. Als sie vor ein paar Monaten eine Erbschaft bekam, wollte sie das Geld dazu verwenden, die weite Reise zu der Schwester zu machen.
„Aber es war furchtbar teuer“, erklärte sie. „Dann hat aber mein Reisebüro diese englische Gruppenreise ausfindig gemacht, so wird es viel, viel billiger, auch wenn ich den Weiterflug von Caims nach Melbourne zum Teil selbst zahlen muß. Dort schließe ich mich der Gruppe wieder an.“
Mr. Nicol tauchte neben unserem Tisch auf.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte er auf deutsch.
„Oh!“ rief Frau Werner. „Sie sprechen auch deutsch!“
„Es bleibt mir nichts anderes übrig“, lächelte er in seinen roten Bart. „Ich bin nämlich Sprachlehrer - Deutsch und Latein“, fügte er hinzu.
„Dann bitte lieber Deutsch als Latein!“ bat ich.
„Ja, wenn Sie deutsch sprechen, kann ich etwas fragen“, sagte Frau Werner eifrig. „Sie sagten doch am Tisch, daß die chinesischen
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