Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
ihnen Futter hin. Die Karnickel kommen bis zur Küchentür, was Bicky maßlos aufregt.
Es ist so schön, nach Vorlesungen und Stadtunruhe hier zu dieser friedlichen Idylle nach Hause zu kommen! Frau von Waldenburg ist immer guter Laune, immer aufgeschlossen, immer bereit, unsere vielen Fragen zu beantworten.
Was das Essen betrifft, hat sie ihr Versprechen gehalten! Wir kriegen ein gut und liebevoll zubereitetes Alltagsessen, ohne Luxus, aber wohlschmeckend und sättigend. Heute hatten wir z. B. Linsensuppe mit Würstchenstücken und Kartoffeln drin, und nachher Eierkuchen in rauhen Mengen. Senta hat mich vor der norddeutschen Küche gewarnt. Aber bis jetzt hat alles herrlich geschmeckt. Übrigens kocht Frau von Waldenburg weder norddeutsch noch süddeutsch, sie kocht „nach ihrem eigenen Kopf“, wie sie sagt. Natürlich gibt es für mich viel Neues. Daß man zum Beispiel Makkaroni mit Tomatensoße als Hauptgericht ißt, ohne Fleisch dazu, das war mir ja unbekannt. Dann habe ich etwas kennengelernt, das so gut ist, daß ich um das Rezept gebeten habe. Es heißt Quarkkeulchen, und es wird aus Quark, Ei, durchgedrehten Kartoffeln, Mehl und Rosinen gemacht, und als flache Kuchen auf der Pfanne gebraten. Gegessen werden die „Keulchen“ mit Zucker, Zimt und Kompott. Ich werde sie machen, wenn ich irgendwann wieder zu Hause in Tjeldsund bin!
Aber am nächsten Donnerstag wird es ein Festessen geben. Da kommen Gäste: Frau von Waldenburgs Patentochter Jessica mit Ehemann und Jessicas Freundin Reni, auch mit Mann. Zwei Ärzte und zwei Ärztinnen! Jessica und Reni sind zwei der „Donnerstagsfresser“, von denen Senta erzählt hat. In ihrer Studienzeit haben sie jeden Donnerstag hier gegessen - und wie gegessen! An dem Tag wird es nur ein schnelles Butterbrot mittags geben. Und abends wird geschlemmt. Gestern war Frau von Waldenburgs Sohn hier und hat Pakete und Kartons abgegeben, er bringt ihr ja regelmäßig Eier und Fleisch und Gemüse aus seiner Landwirtschaft. Bei ihm war also Denise „Au-pair-Mädchen“, bis sie herkam.
Und somit wäre ich bei meinen beiden Mitpensionären. Denise ist ein kleines schwarzhaariges, quirliges Etwas, immer strahlender
Laune, immer zum Plaudern und Lachen bereit. Sie ist das Offenherzigste, was ich jemals getroffen habe, erzählt vollkommen hemmungslos alles mögliche, seien es nun ihre Liebesgeschichten, ihre Geldschwierigkeiten, ihre sprachlichen Schnitzer, oder die unzähligen Dinge, die sie während der Schulzeit ausgefressen hat. Wir verstehen uns sehr gut! Xenia ist ganz anders. Sie ist schweigsam, verschlossen, nicht unfreundlich, aber auch nicht besonders freundlich. Ihr Zimmer liegt neben meinem. Nichts wäre natürlicher, als wenn wir uns gegenseitig besuchen würden und ein bißchen plaudern. Aber so ist sie nicht. Sie sitzt allein - nein, nicht ganz allein: Die sagenumwobene Bicky - die kleine Hündin, wißt ihr
- hat eine Vorliebe für Xenia und verbringt oft ein Stündchen in ihrem Zimmer. Ich bin nur ganz kurz da drin gewesen, um etwas wegen des Waschraums zu fragen. Da lagen Bücher auf ihrem Arbeitstisch und Hefte und ein Stoß Papier, aber nirgends im Zimmer war ein Foto aufgestellt. Und bei mir ist es ja so, daß ich vor lauter Fotos kaum Platz für meine Bücher habe!
Ich habe das Gefühl, daß Xenia furchtbar allein auf der Welt und finanziell sehr schlecht dran ist. Jeden Tag hängt ihre Wäsche zum Trocknen in unserem Waschraum, und es sind immer dieselben Kleidungsstücke. Sie scheint wirklich nicht mehr als zwei Garnituren Unterwäsche zu haben! Sie besitzt keinen Mantel, nur eine Art Lodenjacke, und läuft immer ohne Handschuhe rum. Ich habe sie auch nur mit einem einzigen Paar Schuhe gesehen.
Ich möchte so gern lieb zu ihr sein, möchte sie zum Sprechen bringen. Vielleicht würde es ihr guttun, wenn sie sich einem anderen Menschen , gegenüber erleichtern könnte. Aber ich will mich ja nicht aufdrängeln!
Aber vielleicht wird es anders. In der reizenden Atmosphäre in diesem Haus muß man ganz einfach auftauen! Gestern fragte Frau von Waldenburg, ob wir nicht zum Fernsehen runterkommen möchten, es war eine wunderschöne Sendung über Galapagos. und in Farbe! Nachher blieben wir sitzen und plauderten, das heißt, Denise plauderte und Frau von Waldenburg auch - und ich gab wohl auch ab und zu meinen Senf dazu. Aber Xenia saß ganz still da, mit einem - ja, was soll ich sagen - einem erstaunten, fragenden Ausdruck in ihren klugen Augen. Ja, sie sieht
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