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Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender

Titel: Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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eingepackt. Über das Päckchen von Frau Doktor Schönhagen freuten wir uns beide. Es enthielt eine Miniflasche Sekt, mit einem Zwanzigmarkschein umwickelt.
    „Xenia, das hätten wir uns nun nicht träumen lassen, daß wir beide Sekt trinken sollen!“
    „Das wird das erste Mal in meinem Leben sein!“ sagte Xenia. „Für mich auch! Du, ich stelle schnell die Flasche kalt! Das muß man doch mit Sekt?“
    Als ich zurückkam, reichte Xenia mir das Päckchen, das sie vorhin in der Hand gehabt hatte.
    „Heidi, es ist beinahe nichts. nur. nur. ja also, etwas, was ich selbst gemacht habe.“
    Es war eine Zeichnung vom Haus, von Frau von Waldenburgs ulkigem „Würfelhaus“. Und davor die Besitzerin und Bicky.
    „O Xenia! Wenn du wüßtest, wie ich mich darüber freue! Du lieber Himmel, wie kannst du gut zeichnen! Du, das werde ich einrahmen lassen. Ja, jetzt habe ich doch das Geld dafür. es wird mir eine wunderbare Erinnerung an meine Studienzeit sein! Xenia, ich danke dir tausendmal, ich muß dich einfach umarmen!“
    „Nun ja“, sagte Xenia mit einem kleinen Lächeln. „Tu, was du nicht lassen kannst!“
    Also tat ich es!
    Wie war der Abend schön! So unsagbar friedlich, so harmonisch, so ganz ungestört!
    Nach dem Abendessen saßen wir wieder in meinem Zimmer, beim Kerzenschein und mit Nüssen, Feigen und der kleinen Sektflasche. Sie enthielt genau zwei Gläser, und wir empfanden es beide ganz feierlich, als wir den ersten Sekt unseres Lebens tranken. Xenias Augen hingen an den unzähligen Fotos über meinem Bett. „Ist das alles deine Familie?“ fragte sie.
    „Gewiß! Sie ist reichhaltig, findest du nicht?“
    „Das kann man wohl sagen. Darf ich die Bilder genauer angucken?“
    „Klar. Guck bloß!“ Sie stand auf, ging näher.
    „Ach, da sind die Zwillinge, deine sogenannten Nichten! Eigentlich hätte ein Bild genügt, man sieht doch nicht den Unterschied!“
    „Nein, den sehen nur die Eltern, die Geschwister und zum Glück die beiden Ehemänner! In der Schule brachten sie ihre armen Lehrer zur Verzweiflung!“
    „Das da wird deine Schwester sein, nicht wahr? Und da. das sind doch deine Eltern?“
    „Stimmt.“
    Xenia nahm das Bild, ging näher ans Licht, betrachtete das Foto lange.
    „Wie alt ist deine Mutter, Heidi?“
    „Sie wird demnächst sechzig.“
    Noch eine Weile betrachtete sie die Gesichter meiner Eltern. Dann legte sie das Bild aus der Hand und nahm einen Schluck aus dem Glas.
    „Wenn meine Mutter noch lebte, wäre sie jetzt sechsunddreißig“, sagte Xenia. Sie guckte mich nicht an, sie starrte auf das Glas in ihrer Hand.
    „Sechsunddreißig. ja, aber. aber du bist doch einundzwanzig.“
    „Ja, meine Mutter war fünfzehn, als ich geboren wurde. Du kannst dir vielleicht denken, daß ich nicht gerade ein Wunschkind war.“
    „Aber. aber. dein Vater?“
    „Er lebt noch. Nein, ich kenne ihn nicht. Er sitzt wohl irgendwo als Familienvater und wohlangesehener Bürger. Er ist übrigens Architekt.“
    „Ach, von ihm hast du deine Zeichenbegabung!“
    „Möglich.“ Xenias Stimme war trocken und ausdruckslos.
    „Xenia, wann starb deine Mutter? Erinnerst du dich noch an sie?“ „O ja. Aber nicht als Mutter. Meine Großmutter nannte ich Mutter, und meine wirkliche Mutter war offiziell meine große Schwester, die ich mit Vornamen nannte. Sie hieß Brigitte.“
    Xenia machte eine Pause, trank wieder einen Schluck. Dann stellte sie das Glas weg, und mit einemmal fing sie an zu reden. Sie sprach pausenlos, es war, als ob alles, was sie mit sich herumgetragen hatte, plötzlich hervorquoll, als ob es raus müßte. War es das eine Glas von dem ungewohnten Sekt, oder war es das
    Gefühl, eine Freundin zu haben, eine, die sie verstehen würde, eine, zu der sie Vertrauen haben konnte?
    „Kannst du dir so einen Quatsch denken? Natürlich wußte das ganze Dorf, daß ich Brigittes Tochter war. Nur ich selbst nicht. Ich liebte Brigitte. Sie war unsagbar gut zu mir. Ich hing an ihrem Rockzipfel, wo sie stand und ging, war ihr immer im Weg bei der Arbeit, und sie mußte viel arbeiten. Es gab genüg zu tun auf dem kleinen Hof meiner Großmutter, nachdem Großvater gestorben war. Meine arme kleine Mutti! Was hat sie alles durchmachen müssen, was hat sie alles meinetwegen über sich ergehen lassen müssen. Wie habe ich geweint, als sie krank wurde und ins Krankenhaus kam! Und sie kam nie zurück. Ich war sechs Jahre alt.“
    Xenia machte eine Pause, blies eine Kerze aus, die niedergebrannt war. Dann

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